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Liebe und andere Parasiten

Liebe und andere Parasiten

Titel: Liebe und andere Parasiten
Autoren: James Meek
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    Sie stimmte, die Geschichte, die in Ritchie Shepherds Filmproduktionsgesellschaft die Runde machte. Die sich in die Köpfe einschlich, obwohl die Mitarbeiter kaum etwas davon merkten und schon gar nicht darüber sprachen. Sie war wie ein übler Geruch, eben wahrzunehmen, aber so schwach, dass man ihn gar nicht erwähnte. Immer wenn sie sich während der Herbst- und Frühjahrsstaffeln von Teen Makeover um Ritchie scharten und ihm Fragen stellten, auf die sie die Antwort schon kannten, wenn sie Komplimente zu ergattern versuchten und darum buhlten, dass er ihren Feinden eine Abfuhr erteilte, beobachteten seine Leute ihn. Sie sahen, dass er nicht so witzig war wie sonst. Sparte er sich seine Scherze für jemand anderen auf? Er hatte einen komischen Gang angenommen, fanden sie, seltsam federnd, übereifrig, als meinte er, irgendetwas gäbe ihm zusätzliche Energie oder machte ihn jünger.
    Solange das Gerücht unausgesprochen blieb, hatten die Mitarbeiter Herzstechen. Das Gerücht besagte, dass Ritchie nach langer Enthaltsamkeit mal wieder seine Frau Karin betrog, diesmal mit einer Minderjährigen. Ritchies Familie tat ihnen leid, aber was war, wenn der Schaden auf sie, die Beschäftigten in der Firma, übergriff? Sie fühlten sich persönlich bedroht. Wenn erst einer infiziert war, übertrug sich der Skandal auf die anderen. Alle mochten Ritchie, aber sie waren überzeugt, dass er egoistisch genug war, um sie alle mit hineinzureißen. Die Büros der Produktionsfirma waren von Nervosität und Misstrauen verseucht. Als eines Tages zwei vierzehnjährige Zwillingsmädchen ohne elterliche Begleitung auftauchten und nach Ritchie fragten, sprang Paula, seine Assistentin, überstürzt hinter ihrem Schreibtisch auf, nahm mit dem Schenkel die überhängende Kante einer ausgedruckten E-Mail mit und schüttete sich eine Tasse Kaffee über den Rock. Der Oberbeleuchter schrottete eine zweitausend Pfund teure Fresnel. Er ließ sie von der Brücke fallen, als er sah, wie Ritchie lächelnd den Ellbogen einer hoch aufgeschossenen Zehntklässlerin im kurzen Kleidchen berührte. »Die hatte schon richtig weibliche Kurven!«, hätte der Beleuchter zu seiner Verteidigung gesagt, wenn er nicht befürchtet hätte, alle verrückt zu machen, und so schrie er nur: »Ich Vollidiot!«, während die unten Stehenden vor den Linsensplittern davonsprangen, die über den Boden spritzten. Als die Regieassistentin Ritchie mit einer Gruppe knackärschiger Schulmädchen in Leotards sprechen sah, schritt sie ein und unterbrach ihn mitten im Satz. Noch ehe sie ausgeredet hatte, wurde ihr klar, dass sie sich lächerlich machte. Die Mädchen hatten ihre Lehrerinnen dabei. Schuld war die stechende Furcht in ihrem Herzen.
    Das Stechen ließ sich nur lindern, indem man Worte dafür fand. Das Produktionsteam brauchte etwas Sagbares, um den Druck von der Brust zu bekommen, und als das Gerücht endlich seine ausgesprochene Form erhielt, waren alle dermaßen erleichtert, dass sie ihm sofort Glauben schenkten. Viel besser, wenn Ritchies zehn Jahre bestehende Ehe mit Karin wegen der hübschen, aber über einundzwanzigjährigen Moderatorin Lina Riggs in die Brüche ging und er deshalb das Sorgerecht für Sohn und Tochter verlor, als dass der Boss etwas Illegales und Schändliches machte, das sie alle mit dem unauslöschlichen Makel eines unaussprechlichen Wortes befleckt hätte. Aus »Ich frage mich, ob …« und »Ich wette, dass …« und »Du glaubst doch nicht etwa …« wurde »Ich hab gehört …« und »Ich muss euch was Irres sagen …« und »Ich weiß, wen Ritchie vögelt …«, ohne dass jemand den Übergang merkte. Die Überzeugung beruhigte alle.
    Ritchie fiel auf, dass regelmäßig ein dümmliches Grinsen auf den Gesichtern seiner Mitarbeiter erschien, wenn er in Riggsys Nähe kam. Er wusste nicht, wie glücklich es sie machte, ihre Überzeugung bekräftigt zu sehen, dass er seine Familie mit einer mündigen Erwachsenen betrog. Sie hatten keine Ahnung, dass aus ihrem Gerücht mit dem Aussprechen ein Irrtum geworden und dass das ursprüngliche Gerücht, die stechende Furcht in ihrem Herzen, die Wahrheit war. Sie wussten nicht, dass Ritchie eine Affäre mit einer noch nicht ganz Sechzehnjährigen hatte, die er durch ihren Auftritt in der vorigen Staffel von Teen Makeover kennengelernt hatte. Er traf Nicole einmal die Woche. Er hatte vor, die Sache so lange zu genießen, wie ihm danach war, und sie dann zärtlich zu beenden. Nicole würde, stellte er sich
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