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Die Heilerin von San Marco: Historischer Roman (German Edition)

Die Heilerin von San Marco: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Die Heilerin von San Marco: Historischer Roman (German Edition)
Autoren: Marina Fiorato
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Sich aus sicherer Entfernung nach jemandem zu verzehren, das war es, was ihr vorschwebte. Wie würde sie sich wohl fühlen, überlegte sie müßig, wenn sie in ihrer Loge sitzen und zuschauen könnte, wie dieser Mann nur für sie allein zu siegen versuchte ... vielleicht mit einem Zeichen ihrer Gunst am Ärmel oder an der Mähne seines Pferdes?
    Als der Unbekannte zusammen mit den anderen abstieg, um der Gouverneurin traditionsgemäß seine Reverenz zu erweisen, kam er direkt neben Vicenzo zu stehen. Als passendes Sinnbild seiner Contrada überragte der Reiter aus dem Turmviertel seinen Rivalen von den Adlern um einiges. Vicenzo schnitt bei diesem Vergleich nicht gerade gut ab, stellte Pia nicht ohne eine gewisse Befriedigung fest. Die Reiter reihten sich jetzt unter der Empore der Gouverneurin auf. In einem pantomimischen Akt des Widerstandes gegen die Herrschaft der Medici beäugte sie jeder Fatino so dreist und geringschätzig wie möglich.
    Mit einer Ausnahme.
    Nur der unbekannte Reiter nahm seinen Dreispitz ab und bewies Respekt vor dem Geschlecht, wenn schon nicht dem Rang der Gouverneurin, indem er den Blick auf den Boden richtete und sich verneigte. Pia wurde warm ums Herz, doch dieses Gefühl verflog sofort wieder, als sie ihren Verlobten musterte. Vicenzo spähte mit bewusster Unverschämtheit zu seiner Regentin empor. Er hatte seinen Dreispitz aufbehalten. Pia erkannte abermals, wie sehr sie ihn verabscheute. Dieser Beweis schlechter Manieren – dass er es nicht für nötig erachtete, in Gegenwart einer Dame den Hut abzunehmen – löste in ihr fast noch mehr Verachtung aus als die Gewalt, die er am gestrigen Abend gegen sie angewendet hatte.
    Neben Vicenzo stand sein Vater. Faustino Caprimulgo, der Anführer der Adler-Contrada, war hochgewachsen, drahtig und von dunkler Gesichtsfarbe, hatte aber schneeweißes Haar, das sich wie eine Kappe um seinen Kopf schmiegte. Mit seinen hohen Wangenknochen, den eingefallenen Wangen und der langen, gebogenen Nase ähnelte er dem Adler, den er in seinem Banner führte. Faustino pflegte sich stets zu seiner vollen Größe aufzurichten. Sein Selbstbewusstsein rührte von dem Umstand her, dass er das Oberhaupt der ältesten Familie von Siena war. Trotz des Prunks und des gebieterischen Auftretens der Medici wusste jeder in der Stadt, dass Siena in Wirklichkeit von den Caprimulgi beherrscht wurde. Sie hatten einst in den Tagen der Neun geherrscht, dem Regierungsrat der alten Republik, und jetzt immer noch, wenn auch nicht offiziell. Der Sohn stand Schulter an Schulter mit seinem Vater und fixierte die Gouverneurin mit demselben Raubvogelblick – ein Zwergfalke neben einem Falken, eine kleinere, bösartigere Ausgabe seines Erzeugers.
    Pia verfolgte, wie der von vier milchweißen Ochsen gezogene Streitwagen mit dem Palio, einem großen Seidenbanner in den Farben der Stadt, auf dem die Figuren der Heiligen Jungfrau und des Papstes prangten, neben dem Palast vorfuhr. Diener falteten die Flagge zusammen und überreichten sie dem Sieger des Vorjahres, Ghiberti Conto, dem Oberhaupt der Schlangen-Contrada, der dreimal an die Tür klopfte und dann in den Palast eingelassen wurde. Kurz darauf erschien er neben der Gouverneurin auf der Empore und händigte ihr das Banner aus. Beatrix Violante nahm es mit einem Nicken entgegen und wurde für wenige Momente zu seiner Hüterin, bevor sie es dem diesjährigen Sieger übergeben würde. Pia griff, ohne sich dabei im Geringsten illoyal vorzukommen, nach der Eulenmünze, die um ihren Hals hing, und betete, der unbekannte Reiter möge das Rennen gewinnen und nicht Vicenzo.
    Sie beugte sich vor und versuchte, die Turmfarben des Fremden inmitten der anderen Reiter unten an den Startseilen auszumachen. Ihre unbeteiligte Gleichgültigkeit war verflogen. Sie sah, wie die Fantini einander aus den Mundwinkeln heraus etwas zuraunten, letzte Drohungen oder Versprechen, während ihre bunte Seidenkleidung vernehmlich knisterte. In diesem Moment wurden Abmachungen getroffen oder gebrochen, und große Geldsummen wechselten den Besitzer. Die Pferde tänzelten und stießen sich an; eines stieg vorne in die Höhe und warf seinen Reiter ab – denjenigen im Grün-Weiß der Gans-Contrada, registrierte Pia erleichtert. Nicht ihn.
    Ihr wurde klar, dass das Los den Fremden zum Reiter an der Außenposition der Seile bestimmt haben musste, und im nächsten Moment bestätigte sich ihre Vermutung. Er ritt später als die anderen auf das Seil zu, schien aber kein
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