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Die Götter von Freistatt

Die Götter von Freistatt

Titel: Die Götter von Freistatt
Autoren: Robert Asprin
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Hanse Nachtschatten
Der Vivisezierer
    Andrew Offutt
1
    Natürlich krönte den Statthalterpalast ein Minarett. Die schmale, spitz zulaufende Kuppel ähnelte einer verlängerten Zwiebel. Die nadelähnliche Spitze, die hoch in den Himmel ragte, wurde stolz von einer Fahne geziert, welche das Wappen des Kaiserreiches Ranke trug (Ranket Imperatris). Darunter führten Zinnen wie die Zähne von Pflanzenfressern rund um die Kuppel. Sollte der Palast je angegriffen werden, warnten sie: Hütet euch vor meinen Bogenschützen! Hütet euch vor siedendem Öl!
    Alles am Palast war hochmütig und anmaßend, beleidigend anmaßend. Und hoch!
    Nicht einmal von der Krone der (niedrigeren) Mauer um die Getreidespeicher auf der Straßenseite der Mauer, die den gesamten Komplex des Statthalterpalasts schützte, hätten Greifhaken herübergeworfen werden können, denn so stark war kein Mensch. Ein Pfeil jedoch könnte die Entfernung überbrücken.
    In einer Nacht, als der Mond über Freistatt nicht der bleichen runden Brust einer Maid glich, sondern so schmal war, daß eine Sichel sich seiner Form geschämt hätte, sirrte eine Bogensehne wie eine reißende Lautensaite. Ein Pfeil flog zur Fahnenspitze des Statthalterpalasts. Wie die Spur einer fleißigen Spinne oder einer windgetragenen Raupe zog der Pfeil eine Seidenschnur hinter sich her, so dünn, daß sie von unten nicht zu sehen war.
    Doch dann wurde sie mühsam und zeitraubend zurückgezogen, denn der Schütze hatte sein Ziel verfehlt.
    Erneut legte er einen Pfeil an. Er schien eher Verwünschungen zu murmeln als Gebete. Er hob den Bogen ein wenig, zog die Sehne an die Wange und, das nachgiebige Holz herausfordernd, zog er sie noch stärker. Und nun, einen lauten Fluch ausstoßend, ließ er los. Der Pfeil schoß davon und zog seine spinnenfeine Schnur hinter sich her durch den bleichen Mondschein.
    Es schien eine Nacht zu sein, in der Flüche, wenn schon nicht Gebete, erhört wurden. Das war passend und vielleicht auch bezeichnend für Freistatt, auch Diebeswelt genannt.
    Der Schaft schoß vorbei an der Spitze des Minaretts und schnellte zurück. Die Schnur zwang ihn zu einem leichten Bogen. Er peitschte um die Spitze.
    Zweimal, dreimal, viermal wickelte sich die Schnur herum. So sehr zerrte sie an dem Schützen, daß er in arge Bedrängnis geriet. Es war nicht einfach, die Seidenschnur festzuhalten, die er für den Erlös von einem Paar prächtiger Ohranhänger aus Gold mit Amethysten und Chrysoprasen - gestohlen von ... Nun, das tat nichts zur Sache - erstanden hatte. Der Schütze zog an der Schnur, sehr heftig. Dadurch wickelte sie sich noch fester um die vergoldete Spitze.
    Dann erstarb jegliche Bewegung. Eine Trauertaube sprach zur Nacht, doch niemand glaubte, daß ihr klagender Ruf Regen vorhersagte. Nicht in Freistatt! Nicht zu dieser Jahreszeit! Der Schütze stemmte seine Füße auf die Mauerkrone und lehnte sich mit seinem vollen Gewicht auf die Schnur. Sie war eine straffe, reglose und unsichtbare Linie unter der armseligen Mondsichel.
    Zähne blitzten in der Dunkelheit. Es waren die des Schützen, der auf der Getreidespeichermauer hinter dem Statthalterpalast von Freistatt stand. Sein üppiges Schwarzhaar war dunkler als die Mitternacht, und seine Augen unter Brauen, die fast zusammenwuchsen, nicht weniger. Der Nase fehlte nicht viel und sie hätte einem Raubvogel Ehre gemacht.
    Er sammelte seine Sachen zusammen, sammelte sich selbst, schluckte schwer, wickelte von der Schnur um sich, was er konnte, bis sie so knapp war, daß er auf Zehenspitzen stehen mußte.
    Dann murmelte er etwas, das einem Gebet sehr nahe kam und schwang hinaus.
    Hinaus über die Straße, die breit genug war für mehrere große Kornwagen nebeneinander, und über sie hinweg. Die hohe Mauer brauste ihm entgegen.
    Obwohl er die Knie angezogen hatte, bis sie fast an die Brust drückten, genügte der Aufprall an der unnachgiebigen Mauer, seine Zähne zum Klappern zu bringen und Gebete in Verwünschungen zu verwandeln. Nichts brach, weder Beine noch Seidenschnur. Und ganz gewiß nicht die Mauer aus vier Fuß dicken Quadersteinen.
    Die Schwur unter einem Schenkel, quer über den Körper und über die andere Schulter geschlungen, erklomm er mit ihrer Hilfe die Mauer, Fuß über Fuß, Hand über Hand, schritt er geradezu auf den ausgesuchten, lückenlos zusammengefügten Quadersteinen, umkletterte den Tod, denn der wäre ihm sicher, rutschte er aus. Die Straße war tief unter ihm, und der Abstand wurde mit jedem
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