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Die Frau des Seiltaenzers

Die Frau des Seiltaenzers

Titel: Die Frau des Seiltaenzers
Autoren: Philipp Vandenberg
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Becher wagte Schwarz die Frage zu stellen: »Erinnerst du dich an unser erstes Zusammentreffen im Gasthaus ›Zwölf Apostel‹ in Mainz?«
    »Als du mich in die Geheimnisse des Geldgeschäfts eingeweiht hast?«
    »Nicht nur das.«
    »Ja, du wolltest mich in Fuggersche Dienste nehmen. Ich sollte den Stoffhandel mit Indien aufbauen.«
    »Dazu stehe ich noch heute. Also, wie ist deine Antwort? Du hattest genug Zeit, darüber nachzudenken.«
    Magdalena schmunzelte. Sie hielt Matthäus’ Worte für einen Vorwand.
    »Aber da war noch etwas.« Matthäus sah sie mit ernsten Augen an. »Vom ersten Augenblick, als ich dich sah, empfand ich eine tiefeZuneigung, wie ich sie zuvor noch nie verspürt habe. Und diese Zuneigung wuchs von Tag zu Tag. Ja, sie brachte mich beinahe um den Verstand.«
    Welche Frau wäre nicht empfänglich für solche Worte! Doch Magdalena sah Matthäus von der Seite an und fragte: »Und wie oft hast du das schon einer Frau ins Ohr geflüstert?«
    Aus ihren Augen leuchtete jener anmutige Stolz, der ihn von Anfang an fasziniert hatte – keine dumme Überheblichkeit, sondern das ehrliche Bewusstsein ihrer Wirkung auf einen Mann.
    »Noch nie!«, beantwortete er ihre Frage – mochte sie es glauben oder nicht. Und beinahe schüchtern fügte er hinzu: »Ich bin zwei Wochen durch das Land gereist, ließ Zinsen Zinsen und Schulden Schulden sein, auf der Suche nach dem Glück.«
    Die hochtrabenden Worte des Mannes trafen Magdalena mitten ins Herz. Warum, dachte sie, sperrst du dich gegen die Liebeserklärung eines Mannes, der jede Frau haben könnte? Oder war gerade das der Grund?
    »Glück«, sagte Magdalena, »was verstehst du unter Glück?«
    Schwarz dachte eine Weile nach. Dann antwortete er: »Glück ist die Zufriedenheit des Augenblicks, nicht mehr, aber auch nicht weniger!«
    »Das hast du schön gesagt. Und bist du zufrieden mit dem Augenblick?«
    Matthäus nickte, beugte sich über den Tisch und ergriff ihre Hand. »Du darfst nicht glauben, ich hätte Frauen gemieden wie ein Mönch des heiligen Benedikt. Ein Mann, dem der Ruf vorausgeht, er verwalte mehr Geld, als der Kaiser im Säckel hat, findet Zuneigung bei Frauen aller Stände, und manches Mal – ich gebe es zu – fiel es mir nicht leicht, mich den Geschenken zu widersetzen, die mir wohlgebaut und mit schlüpfrigen Worten dargeboten wurden.«
    »Und du bist immer standhaft geblieben?«
    »Nicht immer. Warum sollte ich lügen.«
    Die offene, ehrliche Art des Mannes gefiel Magdalena. Abgesehen davon, dass er ein stattlicher Mann mit besten Manieren war, hatte er durchaus seine Vorzüge. Du musst dich in Acht nehmen, dachte Magdalena, verwirrt von seinen Annäherungsversuchen.
    »Du hast mir zweimal das Leben gerettet«, sagte sie ohne Zusammenhang. »Ich weiß nicht, wie ich dir danken soll.«
    »Du hast mich nicht darum gebeten«, antwortete Matthäus, »also brauchst du dich auch nicht zu bedanken. Es geschah aus freien Stücken, und ich hoffe, dass es dir recht war. Nur Dumme und Frömmler scheiden gerne aus dem Leben.«
    Magdalena wollte aufstehen und auf ihre Kammer gehen. Der Tag hatte sie sehr mitgenommen. Aber dann merkte sie, dass er noch immer ihre Hand hielt, und sie wagte nicht – nein, sie wollte sie ihm nicht entziehen.
    Sie schwiegen, und auf einmal trafen sich ihre Blicke, und Matthäus sagte, als könne er Gedanken lesen: »Du bist müde. Der Schlaf fordert sein Recht. Wir sollten gehen.«
    Längst hatte sich die Wirtsstube geleert, als sie die Treppe ins obere Stockwerk hinaufstiegen. Der Wirt hatte jedem eine eigene Kammer zugewiesen, wie es für feine Herrschaften üblich war, eine für Magdalena, eine für Wendelin Schweinehirt und eine für Matthäus Schwarz.
    Vor Magdalenas Kammertüre fragte Matthäus, ob er sie küssen dürfe. In Erinnerung an seine Worte über das Glück antwortete sie: Ja, wenn es zur Zufriedenheit des Augenblicks beitrage. Als sich sein Mund ihr näherte, wandte sie ihren Kopf zur Seite und bot ihm nur die Wange dar.
    Später, allein in ihrer Kammer, bereute sie ihr Verhalten und ihre unüberlegte, überhebliche Bemerkung, und sie nahm sich vor, sich am nächsten Morgen zu entschuldigen. Im Unterkleid auf dem Bett liegend, zählte sie im Dämmerlicht die Holzbalken der Zimmerdecke, sinnlos. Dann schloss sie die Augen.
    Wind kam auf. Der erste Herbststurm fegte den Fluss herauf,rüttelte an den bleiverglasten Fenstern und drückte kalten Brandgeruch durch die Ritzen. Erneut kamen die Gedanken, Gedanken
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