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Die Enden der Welt

Die Enden der Welt

Titel: Die Enden der Welt
Autoren: Roger Willemsen
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Heimlichen. Die USA und Japan sind die perversesten Länder. Die einen sind so prüde, dass es ihnen heimlich nicht dreckig genug sein kann, die anderen sind so verdorben, dass sie es heimlich so kindlich wie möglich mögen. Nein? Diese Faszination von Brillenträgerinnen, Krankenschwestern, Schulmädchen, Unschuldslämmern. Sie sind doch besessen von der Unschuld in Japan, oder?«
    »Ich glaube schon, aber auch vom Ritual, von der Inszenierung: Sie lieben Rollenspiele, inszenierte Vergewaltigungen, die Drohung des Erwischtwerdens. Sie machen es auf öffentlichen Plätzen und in Limousinen, aber vor allem soll es aussehen wie eine Leidensgeschichte.«
    »Schamhaft schamlos.«
    »Was hast du an?«, fragte ich.
    Die Fenster reichten bis zum Boden, ich stand im dunklen Zimmer über der Straßenschlucht. Aber eigentlich horchten wir von zwei Seiten der Erde in den Raum hinein, der zwischen uns lag, unseren Kokon. Ich sah sie vor mir, ihr gutes Gesicht, die breiten Schultern, die dunkelblonde Mähne, die großen Hände, die selbstvergessen an etwas herumspielten.
    »Es ist schön, mit dir zu telefonieren«, sagte ich.
    »Ja, es tut gut«, erwiderte sie, und wir ließen das Schweigen im Raum hängen.
    »Es fühlt sich an wie zwischen zwei Unbekannten, die zufällig in einem Zugabteil sitzen und ins Gespräch kommen.«
    »Genau.«
    »So sollten wir mal reisen, tagelang in einem Zug, bloß im Zug, einander gegenüber, im Abteilwagen«, sagte ich.
    Am Ende hatten wir eineinhalb Stunden telefoniert und waren verabredet. An einem Abend in zehn Tagen würde ich im Hamburger Dammtorbahnhof stehen, um mit dem Zug auf und davon zu fahren, mit Christa, wenn sie käme, ohne Christa, wenn sie inzwischen anders entschieden hätte. Sollten wir aber zusammen reisen, das stand fest, würde es nicht darum gehen, irgendwo anzukommen, sondern darum, die Zugfahrt miteinander zu teilen.
    »Aber du musst mir verraten, was ich einpacken soll«, sagte sie.
    Dann überließen wir uns beide der stummen Betrachtung unserer Möglichkeiten und verabredeten, bis zu unserer Abreise nicht mehr zu telefonieren.
    Von diesem Moment an kam ich mit Tokio gut zurecht. Am Sonntagnachmittag schlenderte ich durch Roppongi und fand das Gewünschte: die erkalteten Reste der Nacht, übernächtigte Frauen an der Seite desinteressierter Männer. Der amerikanische Swing der letzten Jahre lag in der Luft, Lounge Music plauderte hinein, von Zeit zu Zeit sirrten die Saiten rund um chinesische Dim-Sum-Lokale und jagten die pentatonische Tonleiter auf und ab. Brasserien atmeten den Geruch des Putzwassers aus.
    An einer Straßenkreuzung zwischen den Nüsse-Verkäufern und den Zeitschriftenhändlern stand isoliert eine Zwanzigjährige mit kastanienrot gefärbten Haaren im Bob-Schnitt. Vor ihrem Bauch hielt sie ein Schild mit japanischen Schriftzeichen, darunter die Übersetzung auf Englisch: »Slave«. Eine Künstlerin? Eine Prostituierte? Unter ihrem Arm klemmte ein Bildband über Audrey Hepburn. Schamhaft schamlos. Es war Sommer, und meine Vorfreude auf Christa unterlegte alle Wahrnehmungen mit Wohlwollen.
    An einem Abend gut eine Woche später stand ich mit Tickets, leichtem Gepäck und einer Flasche Champagner in einer Plastiktüte am Ferngleis des Hamburger Dammtorbahnhofs. Eine Viertelstunde vor der Abfahrt war keine Christa im Bahnhof und zehn Minuten davor auch nicht. Aber fünf Minuten ehe der Zug einlief erschien sie mit einer großen Reisetasche am oberen Treppenabsatz und hastete in meine Umarmung.
    Im Schlafwagenabteil nach Paris tranken wir den Champagner. Wir küssten uns ein bisschen, damit die Verhältnisse klar seien, und später noch einmal, als Christa in der Nasszelle ihren blassblauen Pyjama angelegt und anschließend das obere Bett gewählt hatte, so dass ich sie im Stehen so küssen konnte, dass ihr Kopf im Kissen versank. Dann konnte ich, auf dem Rücken liegend und in das Blaulicht der Nachtbeleuchtung starrend, vor meinem inneren Auge sehen, wie sie ebenso auf dem Rücken lag und in das Blau der Nacht starrte, während wir von dem Schaukeln und Rattern eingeschläfert wurden. Am Morgen schlug der Schlafwagenschaffner mit einem Vierkantschlüssel an die Tür, und Augenblicke später baumelten schon Christas braune Füße vor meinen Augen. Bei ihrem Anblick war das Feriengefühl grenzenlos.
    In Paris verließen wir den Gare du Nord für ein Frühstück an der Place Napoléon  III ., bestellten Speisen aus der Vitrine, Kaffee, Citron pressé und
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