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Die Enden der Welt

Die Enden der Welt

Titel: Die Enden der Welt
Autoren: Roger Willemsen
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Abenteuer, die er da erlebte, aufgeschrieben, die Überquerung des Teppichs, die Besteigung des Sofas. Und nach ihm haben sich dann immer mehr Leute auf Reisen begeben durch ihr Zimmer, ihre Handtasche, ihr Haus oder ihr Zelt.«
    »Das ist gut«, sagte Tom. »Ich möchte auch reisen.«
    »Und das wäre dann wohin?«
    »Ans Ende der Welt!«
    »Das Ende der Welt ist eine Erfindung«, sagte ich. »Sie hat kein Ende.«
    »Das will ich nicht.«
    »Du kannst ja immer noch für dich allein entscheiden, wo deine Welt endet, also, wo sie dir so vorkommt.«
    Ich malte ihm Landschaften ohne Schauseite aus, solche, in denen nichts beginnt und die sich vom Betrachter regelrecht abwenden, so dass man wie auf der Rückseite einer Stickerei die Fäden heraushängen sieht. Ich malte ihm Situationen aus, in denen man sogar immer tiefer in solche Gegenden vordringt, tiefer in die Fremde, die nicht fremder wird, nur ferner. Eigentlich meinte ich Landschaften, die wie die Zimmerdecke waren, Toms Ende der Welt. Doch kein Wort darüber. Stattdessen erzählte ich ihm von den Spuren im Schnee, der Stelle, wo alle Schritte innehalten und man auf die unberührte, von keinem Fuß getretene Erde sieht, abgestoßen vom … Aber da war er schon eingeschlafen.
    Als Brigitta kam, um nach uns zu sehen, legte ich den Finger auf die Lippen. Doch so unbeeindruckt Tom von seinem Sterben wirkte, so gelähmt war ich selbst von der bewusstlosen Gegenwart des Todes in diesem eigensinnig in sich verschlossenen Jungen. Im Gedanken an die Welt, die er nicht sehen würde, fielen mir auch Bilder von Schauplätzen ein, in die der Tod eingegriffen hatte, leere, aufgegebene Landstriche, Sterbeorte, Szenerien des Abschieds, lauter Plätze, an denen die Welt eben nicht rund ist, sondern endlich. Es sind Gegenden, in die man eintritt und weiß, dass hier etwas abgeschlossen ist, und diesem Ende wohnt kein Anfang inne. Nicht du, nicht hier, nicht jetzt, sagen diese Landschaften, und: Du bist der Falsche. Du kannst mir nicht in die Augen sehen.
    Irgendwann ging ich zurück ins Schwesternzimmer, um mit Brigitta in den ersten Abend des Jahres hinein aufzubrechen. Sie saß immer noch da in ihrem Schwestern-Habit und blickte geradeaus in eine wartende Partie Patiencen.

Gibraltar
    Das Nonplusultra
    Das Hotel, in dessen 20 . Stock ich hinter der Gardine sitze, um die Stadt Tokio zu belauern, heißt »Jahrhundert«. Alles ist epochal hier, das Frühstück heißt »Jahrhundert-Frühstück«, der Pool »Jahrhundert-Pool«, und einen »Jahrhundert-Andenkenshop« gibt es auch, falls ich dies Jahrhundert je wieder vergessen sollte.
    Die Hochbauten gegenüber stecken im Boden wie von innen beleuchtete Chitinpanzer ausgestorbener Insekten. In den auf und nieder rasenden Fahrstühlen gibt es Schnittblumen, und Julio Iglesias wird ewig schmachten »Amor, Amor, Amor«. Auch hier. Die Liebe ist unausweichlich.
    Das ist schön und schrecklich, denn während von der Liebe geschnulzt wird, wirken die Paare lieblos, und die Masseurinnen, die noch lange nach Mitternacht gebucht werden, können auch ein Lied singen von der Liebe, aber ein anderes. Einer begegne ich im Fahrstuhl. Sie prustet, reibt sich die Arme und schüttelt den Kopf. Das bezieht sich auf einen Kunden.
    Nach Mitternacht auf dem großen, leeren Platz vor dem Neuen Rathaus, mitten auf der muschelförmigen Piazza mit ihrem römischen Mussolini-Prunk, steht ganz allein ein Mädchen und fotografiert mit ihrem Mobiltelefon den Vollmond. Für wen? Gibt es jemanden unter den dreißig Millionen im Großraum von Tokio, der heute nicht zum Nachthimmel hinaufblicken kann? Einen Kranken? Gefangenen? Unterirdisch Arbeitenden? Einen U-Bahn-Kontrolleur, eine Hostess, einen Bräutigam im Bankettsaal einer der großen Hotelkeller? Oder wird der Mond gleich vom Display über die Landesgrenzen geschickt, vielleicht sogar über den Ozean bis nach Europa, wo er noch nicht aufgegangen ist, aber jetzt acht Stunden zu früh auf einem anderen Display eintreffen wird?
    Diese junge Frau könnte ihn ihrem Liebsten schicken und schreiben: Hier, meine Freude, schicke ich dir schon mal den Mond, unter dem du in ein paar Stunden schlafen wirst. Amor, Amor, Amor … Das Mädchen kichert, dass es von den Marmorwänden perlt. Als ich näher komme, geht sie schnell davon, den Mond fest eingepackt. Der Ort könnte nicht einsamer sein.
    Ich kenne keine Stadt, über der das Licht so grau aufgeht wie über Tokio, der einzigen Stadt, die aus dem Anthrazit kommt
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