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Die Enden der Welt

Die Enden der Welt

Titel: Die Enden der Welt
Autoren: Roger Willemsen
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und auf den Betonflächen langsam, langsam aufklart, heller wird, mausgrau, staubgrau, flanellgrau, fahl, dann licht. Graue Mauern werfen das graue Licht grau zurück, mehr Schattierungen seift der Frühnebel hinein. Auch der Dampf aus den Klimaanlagen mischt mit. Jetzt treten die Werbe-Laufschriften heraus, jetzt die in die Fassaden gesäbelten Schriftzeichen, jetzt Billboards und Transparente.
    Drei Tage später darf ich sagen: Der Himmel war immer schön. Keine Wolke blieb, und Sorgen gab es nur im Traum. In den Fenstern der Büros standen um vier Uhr nachmittags die Angestellten zu Fitnessübungen. In den Fenstern der großen Hotels brannten um drei Uhr früh nur noch die Lichter der Jet-Lag-Patienten. Bis vier Uhr früh sind sie allein es, die wachen. Um sechs ging ich zum Frühstücken und aß Spaghetti, danach »Arme Ritter« zu »Jahrhundert-Instant Kaffee«.
    Und auf den Straßen? Randvoll sind Gassen, Brücken, Bahnen, Läden, Bürgersteige, Toreingänge, Verkehrswege aller Art mit sechzehnjährigen Mädchen, alle gleich hoch, alle gleich blass, alle gleich alt. Als sei eines Tages eine gigantische
Golden Shower
über der Stadt niedergegangen, eine kosmische Befruchtung, die im nämlichen Augenblick Millionen Frauen schwängerte, die alle im selben Augenblick kleine Mädchen hervorbrachten, in die gleichen Röckchen, Schühchen, Blüschen hineinwachsend.
    Ihre Stimmen plärren, wenn diese Novizinnen im Hof der gleichaltrigen Freundinnen, ihrer Millionen Freundinnen, daherkommen. Eine trägt eine Baskenmütze, eine andere eine Baseballkappe aus Sandpapier. Dämchen in Matrosenanzügen sind dabei, Uniformierte im Dienst großer Kaufhäuser. Gemeinsam verschwinden sie in einem westlichen Dekor, »Das Brot-Restaurant« überschrieben, wo man sich an der Theke aus fünfzehn Brotkörben bedient, Sesambrot, Kürbisbrot, Zwiebelbrot, Tangbrot, Algenbrot, Brotbrot.
    Andere verteilen Papiertaschentücher mit Werbeaufdrucken auf der Straße oder wieseln mit indischem Curry zwischen gekachelten Wänden herum, in Schwarzwald-Kostümen, mit gestärkten Schürzen und weißen Schleifen im Kreuz. Und so weiter.
    Die Ordnung auf der Straße hat etwas Kultisches. Selbst die Elenden mit der Sozialfunktion »Bettler« liegen in Kartons brav nebeneinander. Mal steht »Made in the Phillippines« darauf, mal einfach »Enjoy« oder »Bananas«. Im Innern sieht man die Bettler auf dem Rücken liegen und gegen die Kartondecke stieren. Die ist unbeschriftet. Auch die Ordnung macht traurig, auch sie isoliert.
    Nach vier Tagen habe ich kaum vier Sätze gesprochen. Einem Fremden in die Augen zu sehen gilt als unhöflich. Man könnte unsichtbar sein und würde es kaum merken. Julio Iglesias singt immer noch im Aufzug, allmählich singt er mich knieweich. Bei Einbruch der Dunkelheit sammeln sich die Mädchen und die Jungen, die Liebenden, die Sehnenden und Schmachtenden, am Hachikō, dem Denkmal des treuen kaiserlichen Hundes. Treu? Nicht einmal fünf Prozent aller Tiere sind monogam. Aber ich sitze hier richtig, mit gutem Blick auf die erfüllten und die vereitelten Liebenden, und hätte gerne auch so etwas.
    Also zurück in den 20 . Stock des Hotels, wo ich an der Fensterfront des Zimmers klebe wie ein Herbstblatt. Die Nacht kommt nieder mit ihren Versprechen, mir fallen gerade nur unerfüllte ein, unerfüllbare. Erst fehlen Menschen, dann Stimmungen, Atmosphären, Flüchtiges, Beiläufiges. Der in der Wagentür eingeklemmte Mantelzipfel fehlt, der neben den Mund geführte Löffel.
    Am nächsten Abend wird die Angst vor der Einsamkeit physisch. Sie fühlt sich wie Platzangst an. Man gibt dem Kopf Befehle. Sie lassen ihn das Gegenteil tun. Man sagt sich: Du bist unter Menschen. Aber im Gefühl kommt nur das Selbstbild des einsamen, wunderlich werdenden Fremdlings an, der nur unter
einem
Blick so fremd werden kann, dem eigenen.
    Am dritten Abend nahm ich den Hörer in die Hand und rief in Hamburg an.
    »Christa«, sagte die Stimme, klang aber wie »basta«.
    »Christa, ich bin’s«, sagte ich so gelassen wie möglich.
    Ihre Stimme nahm meinen Tonfall auf: »Ach du!«
    Erwartet hatte sie einen Vielversprechenderen. Doch immerhin hatte ich vor gut zwei Wochen auf dem Fußboden ihrer kleinen Wohnung in Altona gesessen, hatte ihr und ihren Terry-Caillier-Platten zugehört, und sie hatte sich, während die Musik die Liebe als große Schnulze instrumentierte, über die unvorhersehbaren Schwierigkeiten bei der Produktion eines Dokumentarfilms
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