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Die Enden der Welt

Die Enden der Welt

Titel: Die Enden der Welt
Autoren: Roger Willemsen
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unwirtliche Landschaft?«
    Dann überlegten wir, ob man Landschaften überhaupt anders als symbolisch betrachten könne, korrespondiert doch jeder Hügelzug, jeder schimmernde See, jede Lichtstimmung über dem Tal einer inneren Situation, sei sie lieblich oder fahl oder roh. Eigentlich nimmt man doch jede Landschaft musikalisch, als eine Manifestation von etwas Seelischem.
    »Und daraus leitet der Reisende dann seine Lieblingsfloskel ab, die da sagt, man bereise eigentlich sich selbst«, folgerte ich.
    »Und wenn man nun in einer solchen inneren Landschaft ankommt? Einer, die dich verneint?«, fragte die Freundin.
    »Dann ist das keine Landschaft zum Kinderzeugen.«
    »Gerade!«, lachte sie. »Komm, ich hab Hunger!«
    Ich dachte damals auch, wenn man reise, bis man irgendwo einmal das Ende der Welt berührt zu haben glaubt, dann erreiche man vielleicht auch einen neuen, andersartigen Zustand des Ankommens. Man müsste wohl unwillkürlich denken, dass alle Reisen ein Ende haben könnten, so unabschließbar sie auch eigentlich sind. Es würde eine Kraft von diesen Orten ausgehen wie im Märchen, wo der Riese auch aus der Berührung der Erde seine Stärke bezieht.
    Könnte es nicht sein, dass nicht die Reisenden sich bewegen, sondern dass vielmehr die Welt unter ihren Füßen Fahrt aufnimmt, und sie sich gleich bleiben? In Wirklichkeit gelangt man immer nur an einen weiteren treibenden Ort, um sich dann neuerlich abzustoßen und vielleicht endlich an jenem instabilen Ort einzutreffen, den ich nur deshalb »Zuhause« nenne, weil er mehr Rituale versammelt als andere, das Zuhause der Wiederholungen. Ich kann ja nicht einmal sagen, dass ich ihn besser kenne – im Gegenteil, Touristen besuchen mit Anhänglichkeit Sehenswürdigkeiten andernorts und haben die ihres Zuhauses nie gesehen. In der Musik einer Flughafen-Wartehalle in Timbuktu, einem Werbefoto, einem Fernsehbild, das einen Berliner Bären im Plüschkostüm tanzend zeigt, gesehen irgendwo auf der Welt, bin ich vielleicht mehr zu Hause als auf einem deutschen Bahnhof. Zumindest kenne ich die Plausibilität hinter der Musik oder dem Bild vielleicht besser, als es die heimischen Tuareg tun, die so gezwungen werden, die mediale Geschichte des Westens zu bewohnen.
    Der eisklare Neujahrstag in der Voreifel hatte einer Frostnacht Platz gemacht, als ich zur ersten Verabredung des Jahres aufbrach. Brigitta hatte den Jahreswechsel nicht mit uns feiern können. Sie war Krankenschwester und akzeptierte den Feiertagsdienst auf der Kinderstation, der besonderen Stimmung wegen, und weil sie gerne zugegen war, wenn die Kinder in ihr neues Jahr schauten, wie sie sagte.
    Als ich ins Schwesternzimmer trat, trug sie noch ihren weißen Kittel, sogar das Häubchen und das Namensschild am Revers. Ich war Student im ersten Semester und nannte Brigitta damals meine »Romanze«. Ihre Gutherzigkeit war einschüchternd, die runden Augen in dem sommersprossigen Gesicht mit den etwas trotzigen Lippen waren es nicht minder. Aber erst, wenn sie Kittel und Häubchen ablegte und der braune Wollpullover über den massigen Brüsten erschien, hatte sie plötzlich einen Körper.
    Wenn ich sie dann ein wenig zu lange im Arm hielt oder der Begrüßungskuss verbindlich wurde, begann sie schwerer zu atmen, und ich war ihr wieder nicht gewachsen. Für sie lag der Körper als Gegenstand der Medizin auf einer Achse mit dem Körper als Gegenstand der Lust. Für mich existierten die beiden nicht einmal im selben Milieu. Manchmal schenkte mir Brigitta Zeichnungen, auf denen Mädchen groß und rundlich standen, eine Sonnenblume hielten und die Haare zum Dutt hochgesteckt hatten. Ich sah diese Zeichnungen, ihre Unschuld und Körperlichkeit, als Inbegriff einer mir unzugänglichen schönen Welt.
    An diesem Abend also trat ich ins Schwesternzimmer und fand Brigitta allein. Vom Etikettieren einer kleinen Sammlung Plastikdöschen blickte sie zwar auf, ließ sich auch auf die Wange küssen, doch abwesend, mit stillgelegter Sinnlichkeit. Fast hätten wir das neue Jahr vergessen. Aber dann lagen wir uns doch kurz im Arm, und bedrückt von der Gegenwart wünschten wir uns etwas diffuses Gutes für die Zukunft. Sie sagte »unsere Zukunft«.
    Wir würden also einen stillen Abend haben. Ich setzte mich an den quadratischen Resopaltisch, an dem sie inzwischen mit dem Aufziehen einer Spritze beschäftigt war, und legte meine Hand auf die ihre. Sie fing sofort an zu weinen.
    Es ging um den Jungen Tom, einen achtjährigen Kerl,
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