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Die Enden der Welt

Die Enden der Welt

Titel: Die Enden der Welt
Autoren: Roger Willemsen
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blinzelten gleichermaßen in die Sonne und den Verkehr. Christa zog ihren Pullover über den Kopf, cremte sich die Arme ein, schenkte ihr Croissant einem Bettler, nannte Paris die »Stadt der Liebe« und sah mich kühn an.
    Der nächste Zug verließ den Bahnhof in südlicher Richtung. Wieder saßen wir einander gegenüber auf den Fensterplätzen, bereit, ganz Frankreich zu durchqueren.
    »Der Weg ist das Ziel«, floskelte sie.
    »Aber wir sind ziellos.«
    Wir sahen uns in die Augen oder sahen in die Landschaft oder sahen in der Reflexion der Scheibe durch die Augen in die Landschaft oder durch die Landschaft in die Augen. Reden mussten wir nicht viel. Es reichte die Überzeugung, diese Reise aus den gleichen guten Gründen zu tun.
    Warum nämlich? Um einzutauchen in jenen Zwischenraum, der dem Luftraum entsprach, in dem wir uns telefonisch getroffen hatten. Es ging nicht um Orte oder um Ortswechsel. Es ging um die Reise in ihrer unfassbaren Flüchtigkeit. Die Schauplätze zogen vorbei, alte Poststationen, ein Bahnhofbuffet, ein Vorplatz, ein Denkmal, ein Brunnen für die Wartenden der Anschlusszüge. Hinter den Bahnhöfen öffneten sich die Siedlungen, hinter den Siedlungen Zwischenlandschaften, die immer nur gestreift wurden, doch voller Menschen in Durchgangsstationen waren, kommende Gehende, noch in den Bewegungslinien Verfangene.
    »Was ist das nur?«, fragte Christa, indem sie die Augen nicht von der Landschaft löste. »Warum werden die Menschen so sehr vom Lieblosen angezogen? Von liebloser Architektur, gedankenlosen Konventionen?«
    »Lass sie doch. Erfahrungsleere ist so erholsam.«
    »Nicht immer alles so schwer, so bedeutungsvoll, so gemeint? Vielleicht.«
    »Lass sie doch einfach ein wenig pointillistischer leben.«
    Ihr Blick inventarisierte die Landschaft. Bis in den Nachmittag waren ihre Themen vor allem: Was sehe ich, was höre ich, was bewegt sich? In der Dämmerung fragte sie eher: Was bewegt mich, was fehlt mir, was ist fern, was unwiederbringlich?
    Sie war eine Weitsichtige: Was noch fern war oder schon wieder verabschiedet, das sah sie scharf. Was aber nah war, was sie unmittelbar umgab, das konnte sie nicht genau erkennen und hüllte es deshalb in Stereotype. Ihre Rhetorik war leidenschaftlich in der Erwartung und im Abschied, also bei den Dingen, die noch nicht sind, und bei jenen, die nicht mehr waren. Was tun mit uns? Zunächst reisten wir aufeinander zu, um die Nähe, die wir in der Ferne empfunden hatten, mit körperlicher Gegenwart zu beleben, aber allmählich wuchs der Verdacht, dass wir am Ende einen Platz leer finden würden. Ja, wir reisten voller Verlangen, doch verlegen, weil jetzt ein Körper saß, wo ein Phantom gewesen war.
    In der ersten Nacht wählten wir ein Zimmer im Gasthof schon an den Ausläufern der Pyrenäen – mit dem gekachelten Boden einer Mönchszelle, kalt und sauber, ohne warmes Wasser, mit durchhängenden Matratzen und filzigen Kunstwolldecken auf dem Bett, darin Brandlöcher und Mottenpulverreste.
    Abends traten wir in den Gastraum durch einen Flattervorhang aus bunten Plastikstreifen. Dahinter saßen die Männer schon beim Kartenspielen wie hinbestellt: stehengebliebene Bilder, in denen sich die Zeit weigerte, weiterzuziehen, und auch die Fremden, die hier eintraten, machten das immergleiche Gesicht.
    Am nächsten Morgen lösten wir Fahrkarten bis Tanger, Marokko. Auf unseren Plätzen, einander gegenüber, waren wir immer weit mehr bei der Landschaft als bei einander. Das sollte so sein. Statt uns zu viel von uns zuzumuten, verloren sich die Blicke lieber stumm zwischen Mischwäldern, leerstehenden Bahnwärterhäuschen, rostenden Streckenfahrzeugen, blühenden Agaven und Spiräen. Wartesäle der zweiten Klasse trieben vorbei, Silos, Garagen, Baumschulen, und manchmal sah ich in Christas versonnenes Gesicht und fand, dass es durchlässig sei und anziehend.
    Schleichend hatte sie sich auch in diesen Landstrichen vollzogen: die Ghettoisierung der Provinz. Da schlossen sich die Wagenburgen des sozialen Wohnungsbaus, der Fremdarbeiter-Siedlungen, in denen man von den Schaufenstern ferner Fußgängerzonen träumte, mit ihren Export-Import-Läden, den Gemüsegroßhändlern und Baustoffmärkten. Dazwischen tauchten sie auf und ab wie in einem Mobile, die Gesichter der Verzweifelten, der Schwervermittelbaren, der Bratwurstwender. Ihre Gesichter sahen aus wie leere Kinderwagen, und manchmal erschien dazwischen jemand, der sich durch den Anschluss an die internationale
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