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Die Enden der Welt

Die Enden der Welt

Titel: Die Enden der Welt
Autoren: Roger Willemsen
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Sonnenbrillenmode Individualität zu geben versuchte.
    Einmal hob Christa den Kopf von der Lektüre der »Traumpfade« Bruce Chatwins, und ich holte Atem:
    »Jetzt würde ich dir gerne etwas Liebevolles sagen.«
    Ihr Blick flog, noch befangen von der Lektüre, über die Landschaft: »Sag’s mir später.«
    Später, das heißt fünfzig Kilometer weiter südlich, nahm sie den Walkman kurz ab, schüttelte den Kopf, sah mich mit zusammengezogenen lotrechten Falten über der Nasenwurzel an und meinte kritisch: »Mozart ist mir manchmal ein bisschen zu ornamental!«
    Danach senkte sie die Augen wieder auf das Papier.
    »So wie die Traumpfade?«, fragte ich.
    Ihr Blick blieb auf dem Papier, als sie sagte:
    »Du redest ein Blech!«
    In der nächsten Nacht schliefen wir in einer spanischen Spelunke gleich bei einem Dorf im Nirgendwo. Die Fenster gingen über den Bahndamm hinaus, und man blickte in das mit Blau und Dunkelblau, mit Blauschwarz und Schattenblau verhängte Firmament, konturiert von der hügeligen Horizontlinie. An unserem kleinen Zimmer-Waschbecken wusch sich Christa mit einem Frotteefäustling die Scham, indem sie unter dem Nachthemd zwischen den Beinen herumfuhrwerkte.
    Draußen gingen die Lichter an, Schwalben surften bis zuletzt zwischen den Häusern, und eine einzelne Mücke schwang sich ins offene Fenster. In der Ferne kamen Autolichter schlängelnd eine Bergstraße herab, als kehrten sie heim von außerhalb, aus einer Welt, die nur das Stadtpflaster kennt. Gegenüber fegte eine Frau ihren Balkon und schlug eine Fußmatte aus, nahebei stieg ein Mädchen, das gerade gebadet hatte, in seine Hose und schüttelte die Haare vor dem Spiegel. Dann rief es heftig nach dem draußen bellenden Hund. Der ferne Autolärm rauschte nur noch.
    Wir drehten das Schild an der Tür auf »Do not disturb«. Gleich war uns privater zumute. Das war es auch, als wir in unsere Betten stiegen, in das Aroma frischer, mit fremdem Waschmittel bearbeiteter Bauernwäsche. Ich griff mir Christas Rechte und bekam sie, legte meine Lippen auf ihre Schulter, und sie blieb so. Von außen waren wir ein Paar, von innen ein Arrangement. Am nächsten Tag nannte ich dies eine »Liebelei«.
    »Die Liebe muss schön sein mit dir«, sagte ich sinnlos.
    »Du hast die Liebe gern«, erwiderte sie. »Das glaube ich dir. Aber noch lieber hättest du sie, wenn sie nicht aus Gefühl bestehen müsste.«
    Originell, aber zu kompliziert für den Augenblick.
    »Warum können wir nicht wenigstens pointillistischer lieben?«, wiederholte ich. Aber da strafte sie mich mit einem verdunkelten Blick. Es war der falsche Zeitpunkt für solche Debatten, zumal wir gerade zum Bahnhof spazierten, um dort zu erfahren, dass es keinen Zug geben werde vor dem Nachmittag. Also schlenderten wir durch den Ort. Ich erinnere mich an einen großen Markt und ein kleines schwarz-bronzenes Denkmal für einen lokalen Helden. Die spanischen Bäuerinnen riefen uns manchmal vor die Pyramiden mit ihren Honiggläsern, und wir bewunderten sie theatralisch wie das große Geschäft von Kleinkindern. Da sagten uns die Marktfrauen, auch Don Quichotte sei schon durch diesen Ort gezogen.
    Anschließend spielten wir in einem muffigen Verhau hinter dem Bahnhof zwei Stunden lang Flipper. Neben uns stand ein Mann an seinem persönlichen Glücksspielautomaten und schaute den blinkenden Kasten an, als erwarte er einen Liebesbeweis. Die Maschine soll bekennen, dass sie es gut mit mir meint, sagte sein Gesicht und wollte nicht wahrhaben, dass sie ihn in ihrer Ablehnung nur beflirtete, dass sie ihn neckte. Doch er dachte, am Ende wird sie sich ihm hingeben und alles ausspucken, sich nur dem hingeben, auf den sie gewartet hat. Unser Flipper-Gerät wiederholte unterdessen:
    »See the clown perform his amazing tricks«, und wir jagten die Kugel durch das »Spinning Wheel«, bis die Fanfare für den Extraball ertönte.
    Aus Ratlosigkeit spazierten wir über die Grenzen des kleinen Orts hinaus in die Felderlandschaft, die der meiner Voreifel-Heimat nicht unähnlich war. Man reist ja nicht nur an einen anderen Ort, sondern auch unter einen anderen Himmel. Allmählich verblasst das Zuhause. Man reist jahrelang, doch nie verblasst es ganz. Das Reisen beweist die Unzerstörbarkeit der Heimat, allerdings der verlorenen.
    Es standen zwei Trecker am Wegrand, der Schornstein der Ziegelei qualmte, zwei Hühner flohen mit gereckten Hälsen, ich streckte den meinen Christa entgegen, aber die sagte:
    »In so einer Landschaft
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