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Die Enden der Welt

Die Enden der Welt

Titel: Die Enden der Welt
Autoren: Roger Willemsen
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küss ich dich nicht.«
    Als wir nachmittags ein eigenes Abteil belegt hatten, zog sie gleich wieder die Kopfhörer über die Ohren und versenkte sich in ihr Buch. Nach einer Stunde blickte sie auf, sah eine Weile aus dem Fenster und äußerte dann versonnen:
    »In diesem Land muss es unglaublich viele Nussbäume geben!«
    Ich kriegte einen Lachanfall, und sie befand:
    »Du wirst von Tag zu Tag unausstehlicher!«
    Manchmal kehrte ich gedanklich zum Ausgangspunkt der Reise in Tokio zurück, als alles Versprechen gewesen war und die Eisenbahngeräusche, das Hereinbrausen der vom Blütenduft schwangeren Sommerluft, das Verschwinden der Lichter am Abend aromatische Wirbel gewesen waren. Jetzt fühlte ich mich eher wie der Reisende, der nicht reisen, sondern erstarren will. Es geht ihm nur um Bodenberührung, um ein Verhältnis zum fremden Raum. Er will sich um sich selbst drehen und fühlen, was ihn umfängt: spezifische Fremde, Ferne, die Unmöglichkeit, sogleich im Heimischen zu sein. Dies wäre also der Reisende, der sich bewegt, um ruhen zu können. Er berührt dauernd Umstände, die ihm das Leben schwermachen. In dürftigen Hotels starrt er an die Decke, vom Straßenlärm, von der Musik aus dem Nebenzimmer eingeschränkt. Sein Reisen verschiebt die Demarkationslinie zum Unerträglichen.
    Ich sah Christa an, ihre schönen Beine in einem hellblauen Sommerrock und ihre passend hellblauen, strengen Augen, die den meinen auswichen und in denen ich immer deutlicher die Enttäuschung entdeckte, nicht nur von mir.
    Gerne erzählt sie mir, was sie in der letzten Nacht oder in einer früheren Nacht ihres Lebens geträumt hat. Sie tut das ausführlich, mit einer pedantischen Liebe zum Detail, ja, sie korrigiert sich sogar. Dabei sind die meisten ihrer Träume eher phantasielos, bis auf diesen einen, in dem eine Kobra (»nein, entschuldige, es war eine Python!«) sie erdrückt hatte, und der Helmut Blüm (»der hieß wirklich so!«) hatte es einfach geschehen lassen:
    »Was sagst du dazu?«
    Mitten auf der iberischen Halbinsel stiegen wir aus, weil die Zugeinfahrt in eine Ortschaft aus rotem Ziegel so vielversprechend schien. Die Straßen aber schwiegen, und die Menschen schleppten sich als Träger langer Schatten durch gepflasterte Gassen. So besuchten wir die örtliche Kirche und staunten hinein in die orchideenartig aufgefaltete Blutwunde des Herre Christ, die die Gläubigen in ihre Meditation einbeziehen. Die Wunde schimmerte tief, und die Achatschichten des Blutrots färbten sich nach innen dunkel, ähnlich wie im Horrorfilm.
    Auf den Plätzen sahen wir der Ausbreitung der Volkslust zu, die sich über die Spielplätze, das Fußballfeld und ein kleines Areal mit Jahrmarktsgeräten gleichmäßig verteilte. Christa nahm den verbreiteten Frohsinn duldend zur Kenntnis und formulierte einen dieser Sätze, die mit »Spanien ist …« beginnen.
    Später wählten wir mutwillig das beste Restaurant im Ort und ließen noch vor der Karte Schaumwein kommen.
    »Hier wird vermutlich das Datum zum Preis addiert«, flüsterte sie und spazierte mit den Augen auf Zehenspitzen durch die Speisenfolge. Sie wird vorsichtig bestellen. Sie mag dieses Gefühl nicht, dieses unbehagliche Gefühl, sie hätte es billiger haben können. Deshalb nennt sie teure Vergnügen gern »nicht nötig«. Das sind sie in der Tat nicht, wären sie sonst Vergnügen?
    Im Augenblick denkt Christa von Gericht zu Gericht nach, ob ein Essen mit diesem Namen ihre Aufmerksamkeit wert sei. Doch, entscheidet sie dann, so ein Essen will sie haben, und sei es auch nur, um es gehabt zu haben. Doch der Kellner bedauert:
    »Das ist heute nicht da.«
    In ihren Zügen macht sich eine Begeisterungsflaute breit. Plötzlich ist ihr das Gericht kostbar. Sie blickt nicht einmal auf, hat ihre Züge im Griff, muss aber lange nachdenken.
    »Und das?«
    Sie zeigt darauf.
    »Es tut mir so leid, Madame.«
    »Also, was haben Sie denn?«
    »Sonst, bis auf die Ente …«
    Ihr Lachen soll amüsiert tolerant wirken, es soll klingen nach »Wir sind ja nicht so«, doch hört es sich höhnisch an. Der Kellner sagt es nicht nur, er zeigt sich auch untröstlich.
    »Macht nichts«, sagt sie. »No problem.«
    Die Dienstleistungssphäre in ihr ist verletzt. Sie ist eine gute Verbraucherin und kennt ihre Privilegien. Sie akzeptiert das vorgeschlagene Gericht, als handele es sich um ein unerwünschtes Kind.
    Neben dem Sorbet-Haufen liegt die halbe Ananas aus dekorativen Gründen ungeschält.
    »Hier stehen
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