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Die Enden der Welt

Die Enden der Welt

Titel: Die Enden der Welt
Autoren: Roger Willemsen
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unweit vom Schiff erkennen. Der Kapitän gibt die Sichtung über Lautsprecher weiter. Die Kameras werden in Stellung gebracht wie zu einer Pressekonferenz, und manche flüstern ihren Off-Kommentar, während sie filmen, in das Gerät hinein:
    »Backbord nähert sich in diesem Moment eine Eisbärenmutter mit ihren beiden Jungen. Sie kommen über das Eis …«
    Was immer im Bild zu sehen ist, muss rhetorisch verdoppelt werden. So hat man es beim Fernsehen gelernt, und am Ende halten die filmischen Bilder einzig Objekte fest, die man mit bloßem Auge nie gesehen hat.
    Die Eisbärenmutter ist nervös und ausgehungert, ihre Kleinen folgen tapsig. Sie beschäftigen die Gruppe für eine halbe Stunde. Man nimmt dieses seltene Vorkommen, immerhin nördlich des 88 . Breitengrads, fast unwillig, eher wie einen schmierigen Regieeinfall der Schiffsbesatzung zur Kenntnis. Fotos werden zwar gemacht, die Blicke aber sagen: Wir wollen hier nicht vergessen, dass wir stehen! Man schaukelt sich zu neuen Empörungen und neuen Humor-Offensiven auf. Eben entert der Stuttgarter die Bar mit der Eröffnung: »Kommt eine Siebzigjährige zum Frauenarzt …«
    Nach Mitternacht stehe ich mit Hanni und Viktor im strahlenden Sonnenschein auf der Brücke, den Glanz und den Nebel über der Ebene anstaunend, als das Schiff ohne Ankündigung seine Motoren anwirft und sich in Bewegung setzt, das Eis mit dem Bug zerknuspernd wie eh und je. Wir stocken nicht, wir bleiben nicht wieder liegen, nein, wir nehmen unbeirrbar Kurs auf den Pol. Da klingt es wie Ironie, als Viktor Boyarski anderntags seine morgendliche Begrüßung mit dem Satz eröffnet:
    »Dobraye utra und guten Morgen. Wieder einmal hat sich die wichtigste Tugend bewährt, die man auf Pol-Expeditionen mitbringen muss: Geduld.«
    Gestanden haben wir elf Stunden, in denen »die Gruppe«, die wir nie waren, endgültig zerfiel, Teile gegeneinander aufstanden, Rädelsführer und Alphatiere ihre Rollen annahmen, andere sich zu- und unterordneten, sich absonderten. Elf Stunden, in denen man erfuhr, dass alle Vorbereitung auf die Extreme einer Expedition wenig beigetragen hatte zur Ausbildung der Eigenschaften, die hier gefragt waren.
    Man erfuhr auch, dass wohl die Vollbremsung, die das versuchte Rettungsmanöver für Marga einleitete, der Grund für die Beschädigung der Turbine war. Mit voller Kraft kann nun nicht mehr gefahren, aber es kann der Nordpol erreicht werden.
    Beim Frühstück sind diejenigen, die die Fassung verloren, schlecht zu sprechen auf die anderen, die es nicht taten. Einer sagt:
    »Der Pol ist ohnehin ein Schwindel. Auf den Fotos ist er immer voll Schnee, und jetzt seht euch das da draußen mal an: 3  Grad über null und Regen! Das soll der Nordpol sein!«
    Dieser Nordpol liegt vor uns, verdüstert. Der Himmel, der uns in den letzten Tagen mit bester Sicht beschenkte, hat sich völlig zugezogen. Noch morgens hatte es leicht geregnet, jetzt laviert sich das Schiff langsam zwischen den algenbesetzten, schmutzigen Eismassiven durch und auf einen Indifferenzpunkt zu zwischen den Becken, Senken, Brüchen. Unter den hoch aufragenden, zwei bis drei Meter dicken Schollenfragmenten steht die tiefschwarze See, in die manche Platte hinabgeschoben wird, ehe sich über ihr das Eis schließt.
    Der Kapitän manövriert die »Yamal« nun Zentimeter für Zentimeter, auf der Brücke umlagert von den Fotografierenden, die sich drängen, die Nadelposition auf dem Hauptkompass in den Fokus ihrer Kameras zu bringen. Das Erreichen und sekundenlange Verweilen auf 90  Grad wird mit Applaus und Glückwünschen quittiert. Dann schenkt das ungerührte russische Personal süßen Sekt aus, man stößt an, umarmt sich und wendet sich der Reling zu, hinter der die Landschaft aussieht wie seit Tagen schon.
    Alle suchen die Gefühle, die zum Ereignis passen. Man denkt an die historischen Reisenden, die hier jubelnd und weinend anlangten, an die Toten, die das Eis immer noch einschließt, an die vergeblich Losgezogenen, die in die Irre Gelaufenen, die Gescheiterten. Alle Anwesenden, so scheint es, haben kleine Gefühle im Vergleich zu ihren Vorgängern. Das Erhabene trillert mit dem Banalen. Es ist ein Punkt der Ausleerung erreicht, der auch zum Nordpol gehört: Nicht gewachsen sein allem, was hier liegt, nichts vermögen als zu schauen, anzukommen, aber ohne es zu wollen, den fiktiven Ort zu betreten, aber verschwindend, schon in die Rückkehr hineinstarrend, die elende Rückkehr.
    Der Kapitän hält eine
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