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Die Enden der Welt

Die Enden der Welt

Titel: Die Enden der Welt
Autoren: Roger Willemsen
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verloren. Der Spätsommer steht, einem Winter gleich, hoch aufgerichtet, breitbeinig über dem Land, bereit, rabiat zu werden, und die Berge ragen kahl und geschunden wie nach einer Strahlentherapie in das Opalisieren des Himmels.
    Beim Abendessen erzählt Marga von einer Kreuzfahrt: Auf dem Schiff erschienen nachts kleine, blasse Jungen in weißen Fräcken, mit nachtschwarzen Augen, Knaben, die nicht lächelten, nur abräumten, nicht auftrugen. Hätten die Leute nicht getanzt, wäre ihnen bange geworden. Auch wurden diese Knaben, Marga zufolge, immer zahlreicher, bis zum Augenblick, in dem die Musik abbrach und nur noch das Stampfen der Maschinen zu hören war.
    »Die Übernahme des Wirklichen durch das Unwirkliche?«
    Sie starrt mich an aus ihren großen, jungen, blauen Augen: »Genau das.«
    Morgens reiße ich zuerst das kleine Fenster auf, die Seeluft strömt herein wie eine Flüssigkeit, alle Morgen kälter. Die rapiden Wechsel am Himmel machen jeden Aufenthalt an Bord abwechslungsreich. Das Schiff brodelt leise, es zittert wie unter Krämpfen, es schüttelt sich, es schwankt. Manchmal fühlt es sich an, als bewohne man einen schlafenden Hund.
    In jedem Reisenden schlummert immer noch der Wunsch, irgendwann einmal unter den Ersten zu sein. Auf den hohen Bergen sind es schon die ersten Blinden, die ersten Einbeinigen, die Ersten ohne Sauerstoff, die Ersten jeder Nation. Hier, auf dem Weg zum Nordpol, kann man noch Pionier sein des Massentourismus oder Nachzügler jener, die dies »Ewiges Eis« nannten, weil sie es nicht besser wussten.
    Vor dem Fenster meiner Kabine erscheinen die Eisschollen in Grün oder Blau, vom Bug des Schiffes geschnitten und senkrecht aufgerichtet, ehe sie in das schwarze Wasser tauchen, unter die Eisdecke geschoben werden, verschwinden.
    Mit dem Schlauchboot werden am Tag darauf zwei Polarforscher, ein Norweger und ein Schweizer, an Deck gebracht. Am 1 . Mai waren sie am Nordpol aufgebrochen, um der Fritjof-Nansen-Route nachzugehen. Nach dreieinhalb Monaten haben sie, ein paar Tage vor der Zeit, Kap Flora erreicht, wo sie ein norwegisches Schiff erwarten, das sie auflesen und wieder heimbringen soll. Unterwegs wurde ihr Schlauchboot bisweilen von Walrossen geschoben, und wenn Eisbären ihr Biwak anzugreifen drohten, setzten die beiden Männer Pfefferspray ein. Da stehen sie nun verlegen auf der Bühne des Konferenzraums im Unterdeck, sympathisch sprachlos. Der Schweizer findet kaum sein Deutsch, dem Norweger hat er ein paar Brocken beigebracht. Es ist seit Mai ihre erste Begegnung mit Menschen, und diese hier staunen sie an als schöne Wilde.
    »Möchten Sie etwas fragen?«
    Als sie sich hinsetzen, testen sie beide anerkennend die weichen Sessel, so bequem haben sie lange nicht gesessen. Ja, sie hatten früher schon gemeinsam das patagonische Inlandeis überquert und damals 54  Tage gebraucht. Wenn sie erst zurück in der Zivilisation sein werden, wissen sie, was sie erwartet. Eine Kamera wird da stehen, Licht wird auf sie fallen, Fotos werden geschossen, und sie werden Fragen beantworten, nicht ungern beantworten, sie werden auf einen Bericht, eine Dokumentation verweisen, ganz Profis, bis die Fragenden weiterziehen.
    Sie sprechen von dem landfesten Eis, das sie gefunden haben, vom Temperaturwechsel und seinen Einflüssen auf die Tiere, die Eisbären zumal, die früher nicht bis zum Nordpol vordrangen. In den Augen der beiden Erzähler ist Beharrlichkeit, ist etwas so Gelassenes wie Insistierendes. So blicken Menschen mit reichem Innenleben in die Welt, Männer, die viel mit sich anfangen können. Die ersten Zuhörer gehen. Die beiden Abenteurer werden jetzt nur noch duschen, ein wenig Proviant mitnehmen und dann weiter warten, dass das Schiff sie von Kap Flora aufliest.
    Als sie die Bühne verlassen, scharen sich doch noch ein paar aus der Reisegruppe um die beiden Männer:
    »Wie haben Sie sich nachts gegen die Bären geschützt?«
    »Wir hatten Stolperfäden rund um unser Zelt gespannt mit Feuerwerkskörpern daran …«
    »Also«, beginnt der Blocker seinen Monolog, »wir haben ja im letzten Jahr die Nordwestpassage gemacht …«
    Und dann folgen die beiden verwilderten Extremisten, mit den Bildern ihrer wochenlangen Eisüberquerung in den Augen, starr und freundlich den Reiseerzählungen eines Bielefelder Sparkassen-Filialleiters aus dem letzten Sommer.
    Das Meer behält die Ruhe. Einzelne Eisbrocken treiben über die glatte Oberfläche. Da die »Yamal« gerade stillliegt, kann
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