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Die Enden der Welt

Die Enden der Welt

Titel: Die Enden der Welt
Autoren: Roger Willemsen
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kein Ende, sie zerfasert in Nebenhandlungen oder versickert einfach, oft in einem »Ihr wisst schon, man macht und tut, und und und …«
    Einmal sitzen wir zu viert, zwei Russinnen haben sich neben uns niedergelassen. Wir lachen viel, aber man kann die Anstrengung fühlen, die es Marga kostet.
    »In welcher Zeit hättest du gerne gelebt?«, fragt eine der Russinnen.
    »In meiner«, sagt Marga.
    »Etwa heute?«
    »Ja, was hätte ich denn vor hundert Jahren ansehen sollen? Den Beginn der Frauenbewegung, des Reformhauses? Heute bin ich dabei, wie die Welt zugrunde geht. Das lohnt sich!«
    Sagt’s, lacht ein wenig unheimlich und blickt auf das Eis, das hier eigentlich eine geschlossene Decke zeigen sollte, stattdessen aber nur in einzelnen Gebilden an uns vorüberschwimmt. Margas Erzählungen sind menschenleer. Es gibt keine Chefs darin und keine Familienmitglieder, keine Freunde und keinen Geliebten. Nur am Mittelfinger der linken Hand trägt sie ein silbernes, ineinander verschlungenes Liebespaar.
    »Dieser Ring hier stammt aus Tel Aviv«, sagt sie und lässt ihre Hand über den Seiten ihres Tagebuchs schweben mit der großen, regelmäßigen und ein wenig langweiligen Schrift.
    Am nächsten Tag verlieren wir uns aus den Augen. Aber zum Abendessen des übernächsten tritt sie schneeweiß gekleidet an den Tisch und beansprucht einen Fensterplatz, indem sie bloß mit dem Kinn auf den Stuhl weist, auf dem sie sitzen möchte. Es ist sonderbar, denn sie sagt nichts, stellt sich nur zwischen den Stuhl und die Heizung und wartet, dass sich Viktor, der Schweizer, erhebt und sich umsetzt. Dann spricht sie flüsternd und in Hochgeschwindigkeit auf Hanni, Viktors Frau, ein, die nur ein einziges Mal widerspricht. Der Einspruch kommt sanft. Mit einer Mimik der Empörung wird er quittiert, wortlos. Marga blickt erst hilfesuchend, dann nur noch wütend in die schweigende Runde, steht auf und verlässt den Tisch, die Serviette immer noch in den ratlosen Händen.
    »Worum ging es denn?«
    Hanni schüttelt den Kopf. Sie habe nicht viel verstanden, das meiste sei Dialekt gewesen, und der Rest …
    »Ich glaube, darüber müssen wir nicht reden. Sie glaubt, von dir geht Gefahr aus.«
    Wir schlendern an Deck. Die Wolken sitzen nicht auf der Horizontlinie, sie tauchen scheinbar unter diese. Die Farbenspiele des Meeres, das sind lauter rasche Lichtwechsel auf einem schmalen Spektrum. Dann wischt ein schmutziger Wolkenschwamm über den Horizont, Schlieren bleiben zurück, Kumulushaufen quellen, und abrupt bekommt auch ein Regenbogen seinen Auftritt, den die schwarzen Wolkenbänke, einem schmalen Streifen entwachsen, effektvoll unterlegen, bis auch sie kapitulieren, der Bogen verblasst und verschwindet, während die Wolken neue Farbschichten auflegen, dann zerfasern und zergehen. Neue scharfkantige Wolkenbänke lasten auf der Horizontlinie und dimmen das Licht, bis der Wind eine rosa Federboa auch über sie zieht. Das Schiff wird begleitet vom Formationsflug der Möwen, die kollektiv ins Wasser tröpfeln.
    Als plötzlich, schroff und herrisch, das herbe Russisch des Kapitäns aus den Lautsprechertrichtern an Deck scheppert, hören auch die Nicht-Russen an Bord: Dies ist keine routinierte Dienstanweisung, sondern die Stimme des Ernstfalls, ein Notfallkommando, das energisch von einem Posten zum anderen weitergeschrien wird.
    Der Eisbrecher erzittert, der ganze Bug schüttelt sich, so abrupt setzt der Bremsvorgang ein. Das Meer schäumt dreckig am Heck, die schon zertrümmerten Schollenstücke geraten abermals in den Sog der Schiffsschrauben, und vorn schwankt der Bug wie betrunken nach links. Das Wendemanöver ist als solches kaum zu erkennen, so weit muss der Koloss ausholen, seine Schleife so großräumig anlegen, als wolle er den Horizont einbeziehen. Irgendwann können wir dann wirklich, weit weg, die vom Trümmereis bedeckte Fahrspur unseres Hinwegs zur Linken liegen sehen. Aber niemand hat jetzt noch Augen für die Anstrengungen des Schiffs.
    »Da ist jemand im Wasser«, ruft einer, ein anderer: »Man over board«, was in mehreren Sprachen weitergegeben wird.
    Grüppchen von Passagieren, deren Mimik im Erschrecken stehen geblieben ist, sammeln sich zu beiden Seiten der Reling. Ja, in der Verlangsamung, in ihrem buchstäblichen Erstarren, kann man erkennen, wie sie erfasst wurden, erfasst von einer Schockwelle, die draußen im Eis, an einem nicht zu identifizierenden Fleck ihren Kristallisationspunkt hat.
    Matrosen hasten durch die
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