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Die Enden der Welt

Die Enden der Welt

Titel: Die Enden der Welt
Autoren: Roger Willemsen
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Die Eifel
    Aufbruch
    Ich kam in die Stadt und suchte die Glücklichen, jene, die wegstreben. Sie haben keinen Ort, dachte ich, oder sind an der Erde nicht richtig befestigt. Jedenfalls sind sie nie nur da, wo sie sind, und die Ferne liegt ihnen schon auf den Schultern, noch ehe sie aufgebrochen sind, »rastlose Menschen« werden sie von denen genannt, die es nicht sind. Dabei leben sie eher sesshaft im Aufbruch. Damals wohnte ich auf dem Dorf, und in der Stadt suchte ich beides: Heimweh und Fernweh.
    Das waren die Jahre der Schwärmerei. Sie konnten nicht bleiben. Über die Sterne, die Meridiane, den Schienenstrang, die Zugvögel, die Kurzwelle, über die Wasserwege und das ferne Brausen der Welt verbunden, drängte sie sich auf, weil sie entrückt war, und wie sich Bewusstsein oft um das kristallisiert, was fehlt, wurde mir die entlegene Welt erst im Phantomschmerz bewusst, am Neujahrstag gegen Mittag.
    Zwölf Stunden zuvor waren wir unter einem frostklirrenden Himmel, erwärmt von Erwartungen, aus einer Umarmung in die nächste geglitten und erstarrt, hatten uns mit dem ironischen Schmachten im Blick betrachtet, das den Anwesenden fixiert wie einen Abwesenden, und gesagt:
    »Hab ein glückliches neues Jahr!«
    »Und dir ein glückliches Leben!«
    Die Schleifspuren der flüchtigen Küsse auf der Wange, waren wir in die Silvesternacht getreten, hatten unsere Gläser zum x-ten Mal in den Luftraum gehoben, ein paar Mal nachgefasst, ein paar Bekenntnisse formuliert, und das Liebespaar, erst seit wenigen Wochen getrennt, schwor, dass es sich gut bleiben wolle. Die allseits beliebte Heitere daneben schimpfte, weil ihr Freund exakt um null Uhr die Falsche geküsst hatte, darauf stürzte dieser ins Gebüsch, um sich zu übergeben. So war denn wieder einmal Silvester nicht im Dur verklungen. Stunden später hatte jeder irgendein Bett, eine Matte im Winkel, eine Sofalandschaft zum ersten Schlaf des Jahres gefunden.
    Am nächsten Morgen, es hatte in der Nacht zu schneien begonnen, tappte ich im Pyjama ins Freie, wo der Freund beschäftigt war, mit der Spitzhacke auf das gefrorene Erbrochene einzuhacken, das in farbigen Eisschuppen in alle Richtungen sprang. Die anderen kamen nach und nach, manche schon mit Kaffeetassen in der Hand, und begutachteten seine Arbeit, die erste im neuen Jahr.
    Wenig später treibt die ganze Gruppe irgendwo in der Landschaft der Voreifel einen verschneiten Weg hinunter, dem weiten Feld, dem fernen Wald entgegen. Wir gehen wortkarg, verteilt auf mehrere Grüppchen. Einige schlendern schlampig, andere stapfen bewusst wie zu Kinderzeiten, befeuert von der matten Euphorie des Lufthungers. Vom Weg sind wir abgegangen. So hoch mit verharschtem Schnee bedeckt ist das Feld, dass wir gehen wie auf Baiser. Die Landschaft ist steif gestreckt und einförmig: Hügel mit Büschen rechts, Hügel mit Mischwald links vor offenem Horizont. Wir gehen.
    Es kommt ein beliebiger Punkt. Da halten alle an, und niemand tut mehr einen Schritt. Der Wind streicht über die leere Fläche, auf der wir stehen wie zusammengefegt. Einer sagt:
    »Hier ist nichts. Drehen wir um.«
    Und keiner tut jetzt auch nur einen einzigen Schritt über die imaginäre Linie hinaus. Als hörten sie das Echo der Grenze, haben jetzt alle den Kopf gehoben, lauschen und sacken in die Bewegung: Alles nickt. Alle wenden sich in ihren Fußspuren. Man stapft heimwärts.
    »Schau mal, wie abgetragen meine Haut schon ist«, sagt eine mit Pagenkopf zu ihrem Freund, das Kinn zwischen zwei Fingern schlenkernd.
    Der Wind trägt es über das unberührte Feld. Keiner blickt zurück, während ich mit einer Freundin noch da stehe und auf den ersten reinen Schnee sehe, in den sich kein Fuß mehr setzte. Was war es in dieser Landschaft, das sagte: Nicht weiter, geh, dreh um, verschwinde?
    »Da liegt sie, die Nein sagende Landschaft. Die ist nicht für uns«, bemerkte ich, angezogen von dieser menschenabweisenden, glanzlosen, von Empfindungen unbearbeiteten Zone.
    »Man hat das Gefühl, auf der Rückseite der Landschaft angekommen zu sein«, sagte die Freundin. »Warum glauben wir eigentlich, ausgerechnet hier auf die ursprüngliche zu treffen?«
    »Vielleicht weil sich Menschen ursprünglich so empfinden? Weil auch sie innen ohne Schauseite sind?«
    »So ließe sich zumindest der Schrecken erklären, den solche Landschaften auch auslösen, der Schrecken vor dem Erhabenen. Die Leute sehen dort, was sie nicht in sich selbst sehen wollen: die wüste, unbehauste,
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