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Die Enden der Welt

Die Enden der Welt

Titel: Die Enden der Welt
Autoren: Roger Willemsen
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man sehen, wie gemächlich die Brocken durch den kristallenen Wasserspiegel ziehen. Manchmal erkennt man die Flora des Franz-Joseph-Lands über dem Scheitel einer Wolkenbank. Dann fragen die Reisenden:
    »Warum können wir nicht auch an Land?«
    Sie trauen der Expertise der Polar-Fachleute weniger als deren bösen Willen. Eine Amerikanerin in Birkenstock-Sandalen sagt über die Abenteurer:
    »Ja, toll, dass sie das gemacht haben, aber ich will es auch machen!«
    Sie kompensiert ihren Unmut, indem sie Nebelbänke fotografiert – mit Blitz.
    Dann werden die beiden Männer unter Applaus verabschiedet und im Schlauchboot zur Insel zurückgebracht. Zurück bleiben Eisfelder, Schneegärten unter mehligem Licht.
    »Von einer solchen Reise sollte niemand unverändert heimkehren …«, sagt Marga.
    Ich schaue sie mir an, ohne schlau zu werden aus ihr. Mal floskelt sie sich mit Ausdauer durch den Small Talk, dann wieder wirkt sie wie ganz herausgefallen aus den Konventionen. Immer schnell sprechend, mit flinken, suchenden Augen, ist sie bedürftig, ohne es scheinen zu wollen. Schnell bereit zu Animosität, zu dünkelhafter Herablassung, wenn nicht zur Empörung über alles und jedes, zeigt sie sich im nächsten Augenblick zugewandt, verständig und auf eingeweihte Weise begeistert.
    »Ich habe Fotos mit von vor drei Jahren. Wenn du in meine Kabine kommen und sie dir ansehen willst …«
    »Das mache ich bestimmt. In den nächsten Tagen.«
    »Hast du Angst, allein mit mir auf meiner Kabine?«
    »Natürlich. Du hast es faustdick hinter den Ohren!«
    Das war der Ausdruck eines Onkels für eine kleine Range. Sie lacht mit zurückgeworfenem Kopf, ungezügelt in ihrem Charme. Dann wird dieses Lachen maskenhaft und ist rasch verschwunden. Aus dem Gedächtnis befreit sie die Muskelspannung des Lachens mehr, als dass sie wirklich lachte, und es passt zu der Stimmung, die ihr offenbar nachhängt, dass sie von einer Zeit erzählt, als es ihr schlechter ging. Auch vor drei Jahren ging es ihr schlechter, als sie auf Franz-Joseph-Land war. Aber sie hat sich erholt:
    »Die Sonne geht auch für mich auf, der Mond geht auch für mich unter.«
    »Nicht hier«, sage ich flau, weil es auch nach Mitternacht immer taghell bleibt.
    »Entschuldige«, erwidert sie. »Sollte ich merkwürdig auf dich wirken, wundere dich bitte nicht, es liegt am Schlafmangel.«
    Ähnlich hatte sie es schon einmal gesagt, damals lag es am Hunger, und am ersten Tag war sie unterzuckert. Trotzdem lässt sie auch heute wieder eine Mahlzeit ausfallen, dann die nächste. An Bord sieht man sie nicht. Als sie wieder erscheint, ist sie heiter. Und ob sie an Deck war! Und ob sie die Eisskulpturen gesehen hat! Nur ein wenig abseits habe sie sich gehalten, auf einem unteren Deck.
    Wir waren wirklich einen halben Tag lang wie durch eine Galerie geglitten. Verteilt über die schwarze Fläche des Wasserspiegels schwammen die Gebilde, die das abgeschmolzene Eis zurücklässt, von der Wärme, dem Wind, der Drift modellierte Bildwerke, kapriziös wie Miniaturen von Satie. Sie wuchsen aus der finsteren Tiefe als die bleichen Auswüchse des Polarmeers, von Wind und Wasser unhörbar umspielt.
    »Nein«, sagte Marga, anlanden werde sie nicht. Unüberwindlich sei ihre Angst vor den Helikoptern.
    »Ihr wisst schon, das Flugbegleiter-Syndrom.«
    Wir wussten nicht, aber sie zuckte die Achseln wie in der Kapitulation vor einer Macht.
    »Schaut mal«, sagte sie stattdessen, »habt ihr sie gesehen, die da in ihrem Nutten-Flokati!«
    Wir blickten auf eine alleinreisende Kunstblonde mit der Neigung, sich abzusondern, gepflegt, aber auf selbstvergessene Weise auch so ausdauernd mit ihrer Pflege beschäftigt wie eine Lumme. Marga war überzeugt, dies sei eine Pornodarstellerin, die sich aus dem Geschäft zurückgezogen habe mit dem Satz, sie werde überhaupt keinen Sex mehr haben, die Liebe interessiere sie nicht mehr. Nun stand sie an der Reling in den Requisiten eines Drehs mit Fellmütze und Overall und Pelz-Boléro und arbeitete sich mit ernüchterten Blicken an der Monotonie der Gletscherwände ab. Später wird sich die Frau als eine Witwe aus dem Schwarzwald entpuppen.
    Margas Rede ist jetzt manchmal verwirrend. Wenn sie beim Essen eine Geschichte beginnt, reißt sie die Aufmerksamkeit gerne lautstark an sich, steuert auch gleich entschieden in die Erzählung hinein, immer weiter auf allgemeiner Aufmerksamkeit beharrend, aber dann verläuft sie sich, die Geschichte findet keine Pointe und
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