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Die Enden der Welt

Die Enden der Welt

Titel: Die Enden der Welt
Autoren: Roger Willemsen
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Franz-Joseph-Land.
    »Guten Abend.«
    Später spielt ein Klavier-Violine-Duo Evergreens aus Klassik, Film und Swing, und unter Deck hält ein Österreicher einen Vortrag zum Thema »Wie Tiere und Pflanzen in der Arktis überleben«.
    Die Verunsicherung gibt allem eine moralische Vieldeutigkeit, solange die Maßstäbe der Pietät noch nicht definiert sind: Darf man schon wieder lachen? Man muss, lautet die Parole.
    Viktor Boyarski erzählt mir, wie sich Marga vor drei Jahren schon einmal ins Eis habe fallen lassen. Damals wurde sie gerettet, eine Geschichte, die ihm erst wieder in den Sinn gekommen war, als er sie am Schiff begrüßt hatte. Außerdem habe sie sich inzwischen wohl gut ausgekannt mit dem Eis, denn gerade dort, wo sie gesprungen sei, lägen die Eisschollen dicht genug, um eine Bergung unwahrscheinlich zu machen.
    Nach unserer Rückkehr in den Hafen von Murmansk werden die Behörden mich und ein paar andere zum Verhör bitten, vor allem aber mich, war ich doch, Zeugen zufolge, ihr Freund. Ich werde in der Kajüte des Kapitäns sitzen und raffinierten Fragen mit Antworten zu begegnen haben, die einen langen Weg über den Dolmetscher in das Protokoll des Beamten nehmen und Stunden später unterschrieben sein werden. Dann wird feststehen, dass sich die Besatzung keinen Fehler hat zuschulden kommen lassen und dass Marga wirklich eigensinnig und unkorrigierbar ihren Weg aus dem Leben gegangen war.
    Am Morgen nach ihrem Tod höre ich schon früh den Helikopter. Der Tag ist pflichtschuldigst grau, wir fahren in ein Trümmerfeld aus verstreuten Eisskulpturen hinein, gläserne Gebilde in Weiß, Algengrün und Blau, manchmal aber auch gelb oder braun vom Guano der Vögel, der schwarzfüßigen Dreizehenmöwe, des nördlichen Eissturmvogels, der Dickschnabel-Lumme oder auch der Raubmöwen, deren Eigenart es ist, andere Vögel zu zwingen, ihre Nahrung herauszuwürgen, damit sie selbst davon fressen können.
    Die Berliner Schnauze steht allein an der Reling. Er empfängt mich mit den Worten »Gut geschlafen ist halb gegessen«, stürzt sich aber im nächsten Augenblick auf seinen Stuttgarter Saufkumpel vom Abend zuvor:
    »Was sehen meine entzündeten Pupillen?«
    Das Licht wandert mal in strahlenden Flächen, mal in Milchglas-Reflexionen. Auf dem noch ungefrorenen Wasser hinterlässt der Wind immer neue Texturen, auf denen die Kristallbrocken sitzen, eingelassen in erstarrtes Frost-Magma. An diesem Morgen öffne ich das Fenster, und eine Eisscholle treibt vorbei, auf der ganz deutlich der Fußabdruck eines Mannes zu erkennen ist, das Fragment einer Schrittfolge, die irgendwann in der Zeit verschwand. Wir befahren das Land, in dem sich die Spuren so vieler bekannter und unbekannter Menschen verlieren. Wie viele berühmte Tote, wie viele unbekannte Fischer und Trankocher, die auf Eisschollen davondrifteten, und allenfalls ein Handelsregister verzeichnet ihr Verschwinden.
    »Das war wohl alles schon vorbereitet«, sagt Viktor, der mein Verhältnis zu Marga ein bisschen besser verstehen möchte. »Wusstest du, dass sie eine Zwillingsschwester hat? Willst du den ersten Satz wissen, den sie sagte, als wir ihr die Nachricht überbrachten? Es war: Das wundert mich nicht.«
    Es ist die Schwester, der ich Monate später auf einem Bahnhof entgegengehen werde, gebannt von der Erscheinung dieser Wiedergängerin, einer Untoten, die mir mit den Händen in den Taschen entgegentritt und nur fragt: »Und«?
    Wir zählen ein Grad unter null, der Wind bläst kälter. Doch die Sicht ist gut, diffus liegt das Licht über der Seenplatte, am Horizont glimmt ein Streifen blassgelber Sonne, der wie durch die Ritze unter der Tür dringt und gleich wieder erlischt. Wir passieren monumentale, tektonisch geschichtete Eisplatten, schwarze Bassins, kapriziöse Schneeaufbauten, bedeckt mit abgeraspelten Splittern, fasrig gespleißte Eisrispen, Miniaturgebirge, geschrumpfte Tafelberge, und zwischendurch öffnen sich wieder diese großen schwarzen Seenplatten, über die das Schiff nur noch leise schwebt, während die leichtesten Bugwellen an den fernen Schneeküsten anschlagen. Wie die Flecken auf einem Kuhfell liegen diese Lachen und Becken, die manchmal, von der Sonne kurz getroffen, glühen und verlöschen.
    Gestern trotteten zwei magere Eisbären vorbei. Kann es einsamere Tiere geben als diese, die in eine mehrere Tausend Quadratkilometer umfassende Fläche davontapsten, als ihnen das Schiff nicht geheuer war? Kein Vogel fliegt, und die
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