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Opferzahl: Kriminalroman

Opferzahl: Kriminalroman

Titel: Opferzahl: Kriminalroman
Autoren: Arne Dahl
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    Etwas drängte in den Sommer.

    Er konnte es nicht benennen, aber irgendetwas war da - ein eisiger Windstoß vielleicht, eine unerwartete Kraft in den durch die Nacht segelnden Spätsommerwolken, eine neue Schwere, die sich von dem grau melierten Himmel herabsenkte - oder vielleicht lag es nur daran, dass er zu spät war.

    Zu spät...

    Das Schlimmste war, dass er wusste, weshalb er zu spät dran war. Er hatte auf dem ganzen Weg gezögert, hatte sich Zeit gelassen, sich unsicher durch Raum und Zeit bewegt.

    War dies wirklich die Richtung, die sein Leben nehmen sollte? Hatte alles auf diesen Punkt hingezielt, all die Mühe, die Anstrengung, der ganze Einsatz, den das Leben nun einmal bedeutete? Hatte er wirklich an diesen Punkt gelangen sollen?

    An diesen heiklen Punkt?

    Er hätte laufen müssen, um rechtzeitig zu kommen. Warum tat er es nicht? Wollte er nicht rechtzeitig dort sein? War es so einfach? Wollte er morgen früh zu sich sagen: Ich habe die U-Bahn verpasst. Deshalb ist nichts daraus geworden.

    Nächstes Mal, vielleicht.

    Nächstes Mal.

    Aber natürlich würde er auch sagen können: Es hat am Licht gelegen. Es lag am Stockholmer Nachtlicht dieser ersten Augusttage. Eigentlich ist es stockdunkel, seit fünf, sechs Wochen raubt die Nacht dem Tag mehr und mehr Zeit. Aber es scheint, als habe der Tag das nicht recht verstanden, als finde ein Kampf statt zwischen einem sterbenden Tag und einer Nacht, die Morgenluft wittert. Das passiert immer nur in diesen frühen Augusttagen, wenn der Tag und die Nacht ihr tatsächliches Kräfteverhältnis zueinander offenbar noch nicht begriffen haben.

    Ebenso hätte er auch sagen können: Es lag an den Düften. An den Düften, die immer noch glauben, es sei Sommer. Düfte, die von einer städtischen Natur, vielleicht in Todesahnung, ausgesandt werden, einer Natur, die sich weigert, die kurze Dauer ihrer Blütezeit zu akzeptieren.

    Und deshalb habe er die U-Bahn verpasst.

    Aber jetzt lief er wirklich. Vielleicht nicht ganz überzeugend, nicht mit jener Kraft, die sich weigert, zu spät zu kommen, und daher um jeden Preis und mit jeder Muskelfaser alle widrigen Umstände überwinden und das Unmögliche wahr machen will. Nein, so schnell lief er nicht - es waren eher die stolpernden Joggingschritte eines Siebzigjährigen.

    Aber er lief.

    Er hatte sich für diese U-Bahn-Station entschieden, um nicht erkannt zu werden. Was für idiotische Dinge wir tun, um unseren Ruf zu schützen, dachte er, als er das U-Bahn-Schild in großer Distanz auftauchen sah.

    Denn darum geht es hier ja wohl?, dachte er. Um den Ruf.

    Der Toten Tatenruhm.

    Leider war es noch eine ziemlich lange gerade Strecke bis zur Station, und dass sie bereits zu sehen war, machte den Weg über die Brücke fast unerträglich. Aber das war keine Frage von physischer Kraft.

    Es war ein moralischer Widerstand.

    Gegen die eigene Schwäche.

    Gegen den eigenen Verrat.

    Denn sicher war Schwäche ein Verrat. Diese Art von Schwäche.

    Er warf schnell einen Blick auf die Armbanduhr. Eine Minute. Es könnte immer noch reichen. Es war noch immer möglich.

    Er entschloss sich und lief mit ausgreifenderen Schritten.

    Jetzt, zum Teufel, werden wir diese verfluchte U-Bahn erreichen.

    Während der Sekunden seines Sprints nahm er die Stockholmer Nacht noch einmal bewusst wahr. Seine Schlussfolgerung:

    Es lag Tod in der Luft.

    Nur wenige Menschen waren unterwegs. Es hätten mehr sein müssen, fand er. Mehr Menschen hätten diese Spätsommernacht genießen sollen. Und vor allem hätten ihn mehr Menschen sehen sollen. Ganz Stockholm hätte ihn anstarren und mit dem Finger auf ihn zeigen sollen. Er hatte erwartet, dass alle seine schmählichen Schritte auf dem gesamten Weg zum Tatort beobachtet und dokumentiert werden würden, aber so war es nicht.

    Als hätten die Stockholmer plötzlich beschlossen, dass der Herbst hereingebrochen war.

    Was geschieht bloß in unserem Leben?, dachte er. Warum sind wir nicht imstande, über uns selbst hinauszublicken? Warum ist die Perspektive so drastisch eingeschränkt?

    Dass er selbst älter geworden war, reichte nicht als Erklärung.

    Es kam sehr überraschend. Er war nicht mehr als fünfzehn Meter von der Treppe zur U-Bahn hinunter entfernt, als es passierte. Später - unter sehr starkem und sehr unangenehmem Druck - würde er versuchen, sich an jedes einzelne, mikroskopische Detail zu erinnern, das die allerletzten Schritte begleitete.

    Die allerletzten Schritte,
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