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Die Enden der Welt

Die Enden der Welt

Titel: Die Enden der Welt
Autoren: Roger Willemsen
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Robbenlöcher sind leer. Die Risse, die der Bug des Schiffes in die Eisdecke fräst, laufen zu beiden Seiten des Bugs auf einem unvorhersehbaren Kurs voraus und in die Ferne. Manchmal heben sich in der Annäherung meterdicke Schollen senkrecht auf und werden im schwarzen Polarmeer versenkt, manchmal kippen sie blau und schwer, schieben sich unter jüngere Platten oder legen sich zueinander wie die Teile eines Puzzles. Dann wird Wasser durch die Ritzen gepresst, es ist Plankton darin, und manchmal tanzt ein kleiner Dorsch im Licht, oder er zappelt bloß zwischen den Fugen.
    An der Bar – einer Zwei-Meter-Theke in einem Durchgang – singt Julio Iglesias »La Paloma«, oder besser, er schlingert durch sein Vibrato, als müsse er erst von Zeile zu Zeile entscheiden, ob er es nicht vorziehen solle, zu sterben.
    Der Berliner, der Blocker und der Stuttgarter teilen sich ein Spalier von Wodkagläsern. Ich höre den Ersten sagen: »Schmeckt wie ne alte Frau unterm Arm.« Der Stuttgarter schaut abwesend. Seine Herzdame aus Sylt tritt eben hinzu.
    »Wo hast du gesteckt?«
    »Ich habe gelesen.«
    »Ein Mensch ohne Kopf ist zeit seines Lebens ein Krüppel«, dröhnt der Berliner, bleibt aber mit seinem Gelächter allein.
    Die freundliche Gattin eines Dresdner Geschäftsmannes mischt sich ein: »Wir haben als Kinder alle Karl May gelesen, aber dass wir jetzt all die Länder kennenlernen, die er beschrieben hat! Und dass wir uns das leisten können!«
    »Entschuldige, Ilse«, blafft der Berliner. »Du hast keine Ahnung, aber davon jede Menge. Der Karl May war in all den Ländern doch bloß mit dem Finger auf der Landkarte. Da hast du dir ja mal wieder was geleistet!«
    »Wieso?«, meint Ilse und versteht wieder nicht. »Uns kostet die Reise ja nichts. Das geht ja bloß vom Erbe der Kinder ab.«
    Alle lachen. Die Ulknudel geht gerade vorbei und glaubt, wir erzählen uns Witze.
    »Ich hab gehört, der Putin mag gern Petunien«, wirft sie hastig ein. »Deshalb heißen die hier jetzt Putinien.«
    »Geländesuchwitz«, sagt der Berliner mit Blick auf die Rechnung.
    Sie zerstreuen sich.
    Immer noch sind die Variationen der Landschaft neu und großartig, aber sie werden feiner und die Formationen einander ähnlicher. Die ovalen, die Tropfenformen dominieren. Mal gleißt eine Lichtinsel weit weg, mal hebt sich ein Haufen Schnee mit dunklem Algenschatten, und der Lichteinfall interpretiert die Landschaft dauernd anders.
    Etwa 150  Kilometer vor dem Pol verlangsamt das Schiff neuerlich, dann kommt es zum Stehen. Eine Stunde später belehrt uns eine Durchsage, es gebe ein technisches Problem, man arbeite bereits an der Lösung. Jetzt, da wir liegen, kein Motorengeräusch, kein Bersten der Eisschollen zu vernehmen ist, könnte die Stille nicht weiter greifen. Es ist dies eine kostbare Weile, in der das Unvorgesehene, der kleine Ernstfall eingetreten ist und uns mit Stillstand beschenkt und bedroht.
    Unterdessen verschiebt sich unsere Perspektive. In Bewegung waren wir Landnehmer, im Stillstand sind wir Objekte. Winzig und wehrlos verharren wir in einer Landschaft, die uns unterwandert. Das Eis schiebt sich an die Bordwände, friert hart und hält uns fest. Wir sind arretiert, und da wir selbst uns nicht mehr rühren, können wir plötzlich jede noch so unscheinbare Bewegung in der Landschaft identifizieren, selbst wenn es sich um nichts Größeres handelt als um den Moiré-Effekt auf dem Wasser, wenn es vom Wind getroffen wird.
    Die ersten Passagiere murren. Das sei »typisch russisch«, keine Informationen, Abwiegeln, Beschwichtigen.
    »Ist eben egal, ob Gorbatschow, Jelzin, Putin, es sind doch alles Zaren.«
    »Ist es euch denn nicht aufgefallen: Die reichen Russen hier an Bord, das sind alles die Kinder von Funktionären oder der Mafia. Ist doch so.«
    »Ist in China genauso.«
    »Genau.«
    Man verliere Zeit, heißt es unter den Passagieren, die man schon wegen des Trauerfalls nicht habe. Der habe ja auch schon Stunden gekostet. Jetzt liege man da. Schön. Noch ein Vortrag, ja, noch ein paar Dias. Prima. Vielleicht noch ein Captain’s Dinner, ein Kostümfest, damit wir stillgestellt seien … Wenn man wenigstens etwas Echtes anbieten würde, einen Helikopterflug zum Beispiel …
    »Bei dem Wind ist das unmöglich.«
    »Weshalb haben wir zwei Rettungshubschrauber an Bord, wenn man sie nicht fliegen kann?«
    An der Reling und vor allem ein Deck tiefer an der Theke formieren sich offen die Linien der Meuterer. Unterdessen organisiert
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