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Die Enden der Welt

Die Enden der Welt

Titel: Die Enden der Welt
Autoren: Roger Willemsen
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ausgelassen. Die Erzählung dazu war so verästelt, dass ich alle Zeit hatte, ihr Gesicht zu studieren, dieses großzügige, sommersprossige Gesicht mit der breiten Stirn, dem zu großen Mund, dem Ich-kann-dir-Dinge-zeigen-Blick. Meines Schweigens wegen hatte sie mich am Ende des Abends einen guten Zuhörer genannt – der ich nicht gewesen war.
    Ihr Dokumentarfilm behandelte die »Doomsters«, Menschen, die den Weltuntergang voraussehen und mal panisch, mal esoterisch, mal verschwörerisch, mal sachkundig und rational reagieren. Christa hatte an diesem Abend ein ärmelloses Leibchen getragen, so dass ich zum ersten Mal ihre breiten Schultern betrachten konnte. Ihr Rock lag drei Handbreit über den Muskelkissen ihrer Oberschenkel, ihre Füße hatten in diesem Sommer wohl noch keinen Schuh von innen gesehen.
    Sie redete und redete, und ihr Filial-Ich, das berufliche, fiel dabei dauernd in den Berufsjargon. Immerzu klingelte es von »man macht und tut …«, »und … und … und …«, »ich sach: so siehstu aus«, »das war ohne Worte, abolutes No Go!«
    So war sie nicht immer, nur in der Nähe der Arbeitswelt. Ich fragte:
    »Glaubst du noch an deinen Film?«
    »Nicht tausendprozentig.«
    Sie stellte sich ans Fenster und blickte schweigend in die Nacht, die in diesem Augenblick von keinem nahen Licht erleuchtet wurde.
    Da legte ich meine Hand auf die nächste Flasche Soave und fragte: »Sollen wir sündigen?«
    Sie drehte sich zu mir um, in ihrem Gesicht halbwarmes Interesse. Dann mit Blick auf die Flasche:
    »Wieso soll Alkohol Sünde sein? Sind Trauben Sünde?«
    »Leg sie ein paar Jahre hin, trink sie, schon sind sie Sünde, oder?«
    Noch vor Mitternacht war ich aufgebrochen, entlassen aus dem Gespinst der Bilder, die sie von sich entwarf – Bilder der gleichzeitigen Selbstüberschätzung und -unterschätzung, professionelle und rührende Bilder, bürgerliche Stereotypen und lose Enden, wie die Vorstellungen, die dem Wort »sündigen« hinterherflatterten. Aber immerhin, es blieben die Enden. Außerdem hatte ihre Stimme etwas so Ruhiges, Nächtliches, und ihr Blick ruhte manchmal so lange gedankenlos in dem meinen, bis sie aufschreckte und sich daraus löste.
    Genau so war jetzt ihre Stimme.
    »Warum rufst du an? Ist was Besonderes?«
    »Nichts Besonderes«, sagte ich. »Ich hab nur an dich gedacht.«
    »Einfach so?«
    »Ich hab einen Satz für dich gefunden. Hör mal: Wer jetzt noch eine Welt hat, mit dem muss sie untergehen.«
    Pause.
    »Und da hast du an mich gedacht?«
    »Schon.«
    »Wegen des Films?«
    »Auch.«
    »Sagt mir jetzt erst mal nichts.«
    Wir redeten besser und ruhiger als damals in ihrer Wohnung. Es gab mehr lose Enden, freie Wertigkeiten, spontane Konjunktionen, und mancher Satz war nichts weniger als eine Berührung. Eigentlich redeten wir zum ersten Mal.
    Nach zwanzig Minuten musste Christa das Haus verlassen.
    »Wie schade«, sagte ich.
    »Ebenso. Wo bist du?«
    »In Tokio.«
    Sie zögerte keine Sekunde:
    »Magst du morgen noch mal anrufen?«
    Ich versprach es. Am nächsten Morgen begann ich, den Werktag wegzuräumen, der zwischen mir und
    ihrer Stimme lag. Schon in Folge meiner Erwartung hätte das Telefonat schiefgehen müssen, aber sie meldete sich mit:
    »Ich bin ganz bei dir.«
    »Christa!«
    »Bist du noch in Tokio?«
    »Genau da, und es ist fremd.«
    »Schön fremd?«
    »Fremd fremd.«
    Sie brauchte keinen Anlauf, kein Warmwerden. Gleich war sie mitten in unserer Sphäre.
    »Was siehst du von deinem Fenster aus?«
    Ich stellte mich über die Stadt: Da lösten sich die Autos in Schüben von den grünen Ampeln, da schlief jemand auf der Fußgängerbrücke, da trug ein Geschäftsmann zur Aktentasche einen Helium-Ballon. Einzelne Bürofenster waren nicht nur erleuchtet, man sah auch Menschen dahinter, gekrümmt in ihre Arbeit, andere in Rumpfbeugen.
    »Weiter, gehen wir auf die Straße!«
    Ich führte sie nach Shinjuku, wir gingen essen, durchquerten einen Park mit Terrakotta-Büsten in Rot, besuchten eine Pachinko-Halle.
    »Zeig mir einen besonderen Ort!«
    Ich führte sie zum Hachikō-Denkmal.
    »Was für Leute kommen dort hin?«, wollte sie wissen.
    »Die Liebenden«, sagte ich. »Hier treffen sich die Liebenden.«
    »Die glücklichen?«
    »Glückliche und unglückliche.«
    »Ich glaube, ich habe Japan über seine Pornographie kennengelernt«, bemerkte sie.
    »Als Frau!«
    »Ich hab einen Film drüber gedreht.«
    »Warum?«
    »Mich interessiert die heimliche Welt, die Welt des
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