Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der unsichtbare Mond

Der unsichtbare Mond

Titel: Der unsichtbare Mond
Autoren: James A. Owen
Vom Netzwerk:
 
PROLOG
Der Neunundzwanzigste
und/oder der Dreißigste
(möglicherweise)
     
    Heute Morgen habe ich den Zeitungsjungen getötet.
    Von allen Gedanken, die träge durch Meredith Strugatskis Kopf wanderten, während sie Sahnewirbel in ihre dritte Tasse Kaffee rührte, war es ausgerechnet dieser, der stehen blieb und Haltung annahm. Nach einem Augenblick des Zögerns marschierte der Gedanke forsch weiter und korrigierte sich: Sie hatte den Zeitungsjungen getötet und gegessen.
    Haarspalterei, vielleicht. Doch als sie darüber nachdachte, entdeckte sie zwischen den beiden Feststellungen einen himmelweiten Unterschied. Hätte sie ihn einfach nur getötet – nun ja, was sollte man dazu sagen? Das wäre, offen gestanden, nicht besonders nett gewesen. Würde jeder laufend andere Leute töten, dann wäre die Welt kein besonders gastlicher Ort. Dass sie ihn umgebracht hatte, stand außer Frage, wenngleich er wenig Gefallen daran gefunden hatte: er hatte schrecklich gestrampelt und geschrien. Die Jugend von heute besaß einfach nicht mehr die gleiche Disziplin wie zu Zeiten von Merediths eigener Kindheit – selbst wenn diese noch gar nicht so lange zurück lag, schließlich war sie erst sechsundzwanzig. Allerdings hatte auch keiner ihrer damaligen Nachbarn irgendeines der Kinder aus der Gegend getötet, geschweige denn gegessen. Es handelte sich also wohl eher um ein allgemeines gesellschaftliches Versagen, nicht um irgendwelche Erziehungsfehler, die Kevins Eltern anzulasten waren.
    Hätte sie es dabei belassen – nun, die Vorstellung war Meredith unerträglich. Es war abscheulich, ein Kind zu töten, wenn man ihm nicht zugleich die nötige Achtung erwies. Und wenn es irgendetwas gab, das Kevin McMillan verdient hatte, so war es Achtung.
    Als Meredith damals das Haus ihrer Großeltern in Wien verlassen hatte und nach Silvertown gezogen war, hatte sie sich in New York City einen Lastwagen gemietet, und – wie ein dummes Huhn, dachte sie – beschlossen, dass sie den ganzen Umzug allein bewältigen konnte. Sie wurde eines Besseren belehrt, als sie versuchte, die Laderampe an der Rückseite des Wagens auszuziehen und dabei den Motor laufen ließ. Er schaltete selbsttätig von Parken auf Rückwärts und hätte sie beinahe zweigeteilt. Glücklicherweise harkte Kevin McMillans Vater drei Häuser weiter gerade seinen Vorgarten (das grüne Haus an der Ecke – mit dem rostigen Ford in der Einfahrt), hörte Meredith Zeter und Mordio schreien und kam mit Kevin im Schlepptau angelaufen. Kevin rief den Notarzt und holte eine Wolldecke aus dem Laderaum des Wagens, während sein Vater den Motor abstellte und Erste Hilfe leistete.
    Eigentlich war es keine Wolldecke gewesen, wie sich Meredith mit Bedauern erinnerte, sondern ein unbezahlbarer Schal, den ihre Großmutter ihr geschenkt hatte. Eines der wenigen Erbstücke, die sie mitgenommen hatte, als Merediths Urgroßeltern ihr Dorf in der Ukraine verließen, um nach Wien zu gehen. Doch es war die Hilfsbereitschaft, die zählte, und dafür war sie äußerst dankbar.
    Meredith verbrachte die ersten beiden Monate im Norden New Yorks in ihrem Wohnzimmer, bis zur Brust eingegipst. Eigentlich hatte sie die Papiere ihres Vaters durchsehen und seine Angelegenheiten regeln wollen – von der Suche nach dem Arschloch, das ihn umgebracht hatte, ganz zu schweigen. Ihr einziger Kontakt zur Außenwelt war der Fernseher, ihr verdammtes Telefon (das immer noch nicht einwandfrei funktionierte; sie nahm sich vor, einen Techniker kommen zu lassen), außerdem der Typ von FedEx, der ihr Aufträge vorbeibrachte, die sie wegen ihrer kaputten Hüfte allesamt ablehnen musste. Und der Zeitungsjunge – Kevin McMillan. Gewissenhaft wie er war, machte sich Kevin stets die Mühe, von seinem Fahrrad abzusteigen, um Merediths Wagen herum zu ihrer Hintertür zu laufen und die Zeitung durch ein offenes Fenster zu schieben. Von dort fiel sie auf einen Tisch, den Meredith von ihrem Bett aus erreichen konnte. Selbst als sie schon wieder auf den Beinen war, ließ er es sich nicht nehmen, die Zeitung auf einen Stuhl in der Garage zu legen, damit sie nicht weit laufen (sie ging immer noch an Krücken) oder sich bücken musste, um sie aufzuheben.
     

     
    Wenn sie im Nachhinein über alles nachdachte, das er für sie getan hatte, hätte sie ihm wirklich mehr Trinkgeld geben sollen. Sie nahm sich vor, zu seinem Nachfolger auf jeden Fall großzügiger zu sein.
     

     
    Eigentlich sollte sie Harald Van Hassel, mit dem sie
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher