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0707 - Im Schatten des Vampirs

0707 - Im Schatten des Vampirs

Titel: 0707 - Im Schatten des Vampirs
Autoren: Claudia Kern
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Wu Bin schloss die Tür hinter sich und blieb einen Moment lang stehen. Es war dunkel in dem kleinen Quartier, das er sich mit seinem Kollegen Tsui Fei teilte. Draußen, tief unter dem ölverschmierten Fenster, wogte die dunkle See und warf sich in einem nie endenden Krieg gegen die Stahlbetonpfeiler, die man durch sie hindurch tief in den Meeresboden getrieben hatte.
    Hier oben bemerkte man nichts von dem ungleichen Kampf. Nur ab und zu schien ein Schaudern durch die Wände der alten Bohrinsel zu gehen.
    Wu Bin hustete und setzte sich auf die schmale Koje an der linken Wand. Die Fotos seiner Familie, die er mit Reißzwecken dort befestigt hatte, waren in der Dunkelheit nur als helle Flecke zu erkennen. Wie jeden Abend strich er mit der Hand darüber, bevor er sich hinlegte.
    Nur noch einen Tag, dachte er, bis ich euch wiedersehe.
    Seit mehr als dreißig Jahren arbeitete Wu Bin nun schon auf der Bohrinsel, folgte dem ewig gleichen Rhythmus von vierzehn Tagen Arbeit und einer Woche Urlaub, doch es war ihm noch nie so schwer gefallen, auf das Ende seiner Schicht zu warten.
    Die beiden Todesfälle zerrten an seinen Nerven. Die Bohrleitung hatte sie offiziell als Unfälle bezeichnet, aber Wu kannte niemanden, der daran glaubte. Unfälle geschahen, wenn die Bohrer neu eingestellt werden mussten oder bei Stürmen, wenn Männer von der Plattform geweht wurden. Sie geschahen jedoch nicht in den engen Quartieren, lange nach Ende der Arbeit.
    Unruhig drehte er sich auf die Seite. Die Müdigkeit war ein Gewicht, das auf seinen Geist drückte. Sie war eine Fessel, die seine Gedanken einschloss und seinen Körper lähmte.
    Er konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal geschlafen hatte. Wenn er zu denken versuchte, legte sich ein Schleier über seine Gedanken. Alles verschwamm, bis er nicht mehr wusste, ob er die Bilder, die er sah, tatsächlich erlebt oder nur geträumt hatte.
    Ich muss schlafen, befahl er sich selbst.
    Stundenlang dachte er nur an diesen Satz, wiederholte ihn leise flüsternd oder stumm in seinen Gedanken. Schließlich wurden seine Worte undeutlich, die Abstände zwischen ihnen größer. Wu Bin schlief ein.
    Und träumte.
    Er stand auf einem breiten, gepflasterten Weg. Links von ihm ragten grün bewachsene Felsen in die Höhe, rechts erstreckten sich Reisfelder, an denen das blaue Band eines breiten Flusses vorbeizog. Die Sonne stand hoch am Himmel. Ihre Strahlen brachen sich in den goldenen Dächern einer Stadt, die am Ende des Weges lag.
    Ruhig und ohne Verwunderung betrachtete Wu Bin die prachtvollen Häuser und das breite, offen stehende Stadttor. Er wusste nicht, weshalb er an diesen Ort gekommen war, aber er dachte auch nicht darüber nach. Gedanken hatten keine Bedeutung mehr. Nur der Gang durch das Tor zählte.
    Als Wu Bin starb, war das Tor noch einen Schritt entfernt. Trotz der furchtbaren Schmerzen streckte er die Hand danach aus, wollte es wenigstens ein einziges Mal berühren, doch es verschwand im gleichen Moment. Zurück blieb nur ein éndloser schwarzer Tunnel, in den er schreiend hineinstürzte - und dann nichts mehr.
    ***
    Es war kalt in dem großen Büro. Durch die Panoramascheiben konnte man ganz Shanghai überblicken, aber die beiden Personen, die in dem Raum saßen, hatten kein Interesse an der Smog durchsetzten Stadtszenerie.
    Yu Li-Wen strich nervös über die Falten ihrer Uniform und unterdrückte ein Zittern. Die Klimaanlage, die sich über ihr an der Wand befand, kühlte die Luft auf unter zwanzig Grad und trocknete sie so sehr aus, dass sie in den Augen stach. Trotzdem wagte sie nicht, den Stuhl zu verrücken, sondern blieb stumm und blinzelnd vor dem Schreibtisch sitzen.
    Auf der anderen Seite der polierten Holzplatte beugte sich General Mok Siu-Chung über die Papiere, die Li-Wen vorbereitet hatte. Er war ein älterer, stark übergewichtiger Mann, dessen rotgrüner Uniformkragen unter einem Dreifachkinn verschwand. Während er las, bewegten sich seine Lippen, so als müsse er die Worte erst aussprechen, bevor er sie verstand. Er war ein langsamer Leser, der die Papiere in regelmäßigen Abständen zur Seite legte und laut schlürfend aus einer Teetasse trank.
    Wegen dieses Verhaltens nannten Li-Wen und ihre Kollegen ihn »Mok -den Bauern«, allerdings nur hinter seinem Rücken. Man erzählte sich, er sei vor vielen Jahren aus einer der Provinzen nach Shanghai gekommen und habe es bis zum Rang eines Majors gebracht, bevor jemand bemerkte, dass er nicht lesen konnte.
    Dieses
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