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Der Pfeil der Rache

Der Pfeil der Rache

Titel: Der Pfeil der Rache
Autoren: C.J. Sansom
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kapitel eins
    D er Kirchhof lag friedlich in der nachmittäglichen Sonne. Über die Kieswege verstreut, fanden sich Zweige und Äste, welche die Unwetter von den Bäumen gerissen hatten, die in diesem stürmischen Juni des Jahres 1545 über das Land gefegt waren. In London waren wir mit dem Schrecken davongekommen, hatten nur ein paar Schornsteine eingebüßt, im Norden aber hatten die Unwetter verheerend gewütet. Man munkelte von faustgroßen Hagelkörnern mit allerlei Fratzen darauf. Aber Geschichten pflegen umso dramatischer zu werden – das weiß ein jeder Anwalt –, je länger sie die Runde machen.
    Ich hatte den gesamten Morgen in meiner Kanzlei am Lincoln’s Inn zugebracht und einige neue Fälle für den Court of Requests ausgearbeitet, der sich mit Armenklagen befasste. Sie würden erst im Herbst zur Anhörung kommen, denn auf Anweisung des Königs war das Sommertrimester, der Invasionsgefahr wegen, vorzeitig beendet worden.
    In den letzten Monaten war ich der Schreibarbeit überdrüssig geworden. Von einigen Ausnahmen abgesehen, wiederholten die Fälle sich immer und immer wieder: Grundherren, die ihre Pachtbauern von den Höfen jagen wollten, um für den gewinnträchtigen Wollhandel Schafe auf die Weiden zu setzen. Zu demselben Zweck suchten sie auch das dorfeigene Gemeindeland an sich zu bringen, von dem die armen Leute abhängig waren. Löbliche Fälle durchaus, jedoch tagein, tagaus derselbe Trott. Und während ich arbeitete, schweifte mein Blick ein ums andere Mal zu dem Brief, den ein Bote von Hampton Court bei mir abgegeben hatte. Er lag am äußeren Ende meines Schreibtisches, ein weißes Rechteck mit einem Klumpen roten Siegelwachses in der Mitte. Dieser Brief bereitete mir Kopfzerbrechen, zumal es ihm an Einzelheiten fehlte. Als meine Gedanken nur noch abschweiften, entschied ich mich zu einem Spaziergang.
    Draußen bemerkte ich eine Blumenfrau, die sich am Pförtner vorbei in den Innenhof geschlichen hatte. Nun stand sie in einer Ecke, eine schmutzige Schürze über dem grauen Kleid, das Gesicht von einer weißen Haube eingerahmt, und bot den vorübereilenden Barristern ihre bunten Sträußchen feil. Sie sei eine Witwe, rief sie mir zu, als ich an ihr vorüberging, ihr Mann im Krieg gefallen. Ich bemerkte, dass sie auch Goldlack im Korb hatte; die Blüten erinnerten mich daran, dass ich das Grab meiner armen Haushälterin schon fast einen Monat nicht mehr besucht hatte; Goldlack waren Joans Lieblingsblumen gewesen. So bat ich die Frau um einen Strauß, und sie reichte ihn mir mit ihrer rauen, rissigen Hand. Ich zahlte ihr einen halben Penny dafür, woraufhin sie knickste und sich artig bedankte; ihr Blick indes blieb kalt. Ich ging weiter, unter dem Großen Tor hindurch und die neu gepflasterte Chancery Lane hinauf bis zu der kleinen Kirche.
    Während des Gehens schalt ich mich ob meiner Unzufriedenheit, rief mir ins Gedächtnis, wie viele meiner Amtsbrüder mir die Stellung als Rechtsanwalt am Court of Requests neideten und dass der juristische Berater der Königin mir schon manch einträglichen Fall vermittelt hatte. Doch las ich in den vielen nachdenklichen und besorgten Gesichtern der Vorübergehenden, dass nicht nur mich diese Unrast quälte. Angeblich hatten die Franzosen vor dem Ärmelkanal ein Heer von dreißigtausend Mann zusammengezogen und standen kurz davor, mit einer gewaltigen Kriegsflotte, deren Schiffe sogar Stallungen für die Pferde bargen, in England einzufallen. Da kein Mensch wusste, wo genau sie landen würden, hatte man in allen Landesteilen Soldaten postiert, um im Bedarfsfalle die Küsten zu verteidigen. Jedes einzelne Schiff der königlichen Flotte war auf See, sogar die großen Handelsschiffe waren beschlagnahmt und für den Krieg umgerüstet worden. Der König hatte im Jahr zuvor beispiellos hohe Steuern erhoben, um seinen Feldzug gegen Frankreich zu finanzieren. Nachdem die Invasion des Festlandes gescheitert war, belagerten die Franzosen seit dem vergangenen Winter in Boulogne ein englisches Heer. Und nun kam der Krieg vielleicht zu uns auf die Insel.
    Ich lenkte meine Schritte auf den Kirchhof. Obschon es mir an Frömmigkeit gebrach, ermunterte die Atmosphäre zwischen den Gräbern mich doch zum stillen Nachdenken. Ich kniete nieder und legte die Blumen auf Joans Grab. Sie hatte mir den kleinen Haushalt nahezu zwanzig Jahre lang geführt; als sie zu mir gekommen war, war sie eine Witwe von vierzig Jahren gewesen und ich ein frischgebackener Barrister. Da sie
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