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Die Augen der Mrs. Blynn

Die Augen der Mrs. Blynn

Titel: Die Augen der Mrs. Blynn
Autoren: Patricia Highsmith
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Minuten nach halb sechs war. »Ja, warum nicht? Danke für die Einladung.«
    Damit verabschiedete sie sich und ging auf ihr Zimmer.
    Hélène kam vor der vereinbarten Zeit in die Bar; das heißt, eigentlich hatte sie die Verabredung schon halb vergessen. Nachdem sie ein heißes Bad genommen und sich umgezogen hatte, betrat sie um sieben Uhr in einem dunkelgrünen Wollkostüm, mit passender Fransenstola um die Schultern, die Bar, in der bereits Hochbetrieb herrschte.
    Im weißen Kamin prasselte ein loderndes Feuer. Normalerweise wäre Hélène ein solcher Auftritt peinlich gewesen, denn sie war ein bißchen schüchtern, doch heute stellte sie erfreut fest, daß sie keine Spur von Scheu oder Unsicherheit empfand, nicht einmal im ersten Augenblick. Dann fiel ihr Gert ein. Rasch blickte sie sich um, aber als sie ihn nirgends entdeckte, trat sie an den Tresen, wo zufällig gerade alle Plätze besetzt waren. Doch sogleich erhob sich ein Herr und bot ihr seinen Barhocker an.
    »Permettez-moi, Madame.«
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    »O danke, aber ich wollte nur etwas bestellen«, sagte Hélène auf französisch und lächelte ihn an.
    »Ach nein, bitte setzen Sie sich doch. Sie sehen ja, es ist nirgends ein Tisch frei.«
    »Danke sehr.« Hélène bestellte ein Kirschwasser.
    Der Franzose bestand darauf, es von dem Kleingeld, das er auf der Theke liegen hatte, zu bezahlen. Er war etwa Mitte Vierzig, dunkelhaarig, mit einem schmalen Schnurrbart und buschigen schwarzen Augenbrauen. Er erkundigte sich, ob sie zum erstenmal in Alpenbach sei, wie lange sie bleiben werde, und der Herr, der auf der anderen Seite neben dem nun stehenden Franzosen saß, verfolgte das Gespräch so aufmerksam, als sei er ein Bekannter von ihm, auch wenn der Franzose ihn nicht vorstellte.
    Kurz darauf bat er sie, ihm beim Abendessen Gesellschaft zu leisten. Hélène hatte inzwischen gemerkt, daß eines seiner grauen Augen aus Glas war. Er hatte schlanke, nervöse Hände. Er sei Cellist in einem Pariser Orchester, hatte er ihr erzählt. Hélène nahm seine Einladung an. Allerdings, meinte sie, habe sie um halb acht noch eine Verabredung mit ein paar Herrschaften hier in der Bar.
    »Ich weiß gar nicht, wozu ich die überhaupt noch trage«, sagte sie mit einem raschen Blick auf ihre Armbanduhr.
    »Wo ich mich doch nie nach ihr richte. Ich bin viel zu früh dran.«
    »Wären Sie um halb acht gekommen«, sagte der Franzose, »dann hätte ich Sie möglicherweise nicht kennengelernt. Übrigens… ich heiße André Lemaitre…. Ach nein«, setzte er mit einem nachdenklichen Lächeln hinzu.
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    »Irgendwie hätten wir uns bestimmt getroffen.«
    Als Gert mit seinen Begleiterinnen erschien, ließ sie den Franzosen und ihr leeres Glas stehen und setzte sich zu den von Böchleins an ein Tischchen, das Gert reserviert hatte.
    Seine Mutter, eine Blondine mit feingeschnittenen Zügen, wirkte anfangs ein wenig kühl, was Hélène nicht im mindesten störte, doch nach fünf Minuten war Frau von Böchlein aufgetaut, und sie lachten und plauderten so angeregt miteinander, als ob sie alte Bekannte wären. Im Moment ging es um den schielenden und möglicherweise debilen Stationsvorsteher von Alpenbach, der heute eine ganze, für Alpenbach bestimmte Ladung Gepäck fehlge-leitet hatte, so daß sie um ein Haar in Wien gelandet wäre.
    Gerts Schwester Hedwig, ein blutjunges Mädchen, das immerhin schon einen Hauch von Lippenstift aufgelegt hatte, blickte Hélène unverwandt mit freundlichen, verträumten Augen an, schien jedoch wenig gesprächig. Gert war ganz Kavalier, der sich um die Getränke kümmerte und Hélène gegenüber einen so besitzerstolzen Ton anschlug, als ob sie seine Eroberung wäre, was Hélène amüsierte. Als man sich erhob, um zum Speisesaal hinüberzuwechseln, schien es ausgemacht, daß Hélène mit den von Böchleins essen würde, und sie selbst hätte den Franzosen ganz vergessen, wäre der ihr nicht in der Halle hinterhergeeilt.
    »Madame! … Pardon, Madame, Sie haben doch nicht vergessen, daß wir…«
    »Ach!« Hélène tippte sich lachend an die Stirn. »Bitte verzeihen Sie, Frau von Böchlein… und Sie auch Gert, aber ich habe diesem Herrn versprochen, daß ich mit ihm essen würde.«
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    »Was haben Sie?« Gert schäumte, doch dann bezwang er sich. »Na ja, wenn Sie's versprochen haben… Ich finde das allerdings sehr, sehr schade.« Und in der Tat wirkte er ganz untröstlich.
    »Morgen ist auch noch ein Tag, Gert.«
    »Also morgen«, nahm Gert sie beim Wort. »Zum
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