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Die Augen der Mrs. Blynn

Die Augen der Mrs. Blynn

Titel: Die Augen der Mrs. Blynn
Autoren: Patricia Highsmith
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Wieder andere, die vereinzelt abseits standen, erinnerten an die filigranen Knospen in den Glaskugeln viktorianischer Briefbeschwe-rer. Hélène beugte sich tief mal zu dieser, mal zu jener hinunter und bestaunte die zarten Farben, die die weiß ver-krustete Schneedecke ringsum zum Leuchten brachten.
    Lange Erfahrung und Anpassungsfähigkeit, dachte sie, hatten diese kleinen Blumen schneetauglich gemacht.
    Wenn ihre Zeit gekommen war, öffneten sie in anmutig heiterem Trotz ihre winzigen Blütenkelche mit der gleichen Leichtigkeit, mit der ein Zauberer ein Kunststück aus dem Handgelenk schüttelte. Hélène hörte leise knirschende Schritte hinter sich und sah, als sie sich umwandte, einen blonden Jüngling in pelzbesetzter Jacke auf sich zustapfen.
    »Guten Tag! Wollen Sie bis ganz nach oben?« fragte er auf deutsch.
    25
    Hélène blickte zum Gipfel hinauf und sah dann wieder den jungen Mann an. »Ich weiß nicht. Wohl kaum.« Der ungebetene Begleiter irritierte sie, aber nur flüchtig. Im Grund war das doch alles unwichtig.
    Sie gingen im Gleichschritt nebeneinanderher; der Pfad war gerade breit genug für zwei.
    »Ich bin Gert von Böchlein«, sagte der junge Mann. »Sie sind erst heute angekommen, nicht wahr?«
    Er hatte ein offenes Gesicht, ein gewinnendes Lächeln, er war nicht älter als zwanzig, und, dachte Hélène, er sieht nicht aus wie einer, der eine reifere Frau ansprechen würde, ohne ihr vorgestellt worden zu sein.
    »Vor etwa einer Stunde bin ich eingetroffen, ja«, sagte Hélène und strich sich ein paar Haarsträhnen aus dem Gesicht. »Puh! Ich weiß nicht, ob ich Lust habe, bis ganz da rauf zu kraxeln.«
    »Das kann ich mir auch nicht vorstellen! Wissen Sie, daß man acht Kilometer zu laufen hat bis zum Gipfel?« Er lachte. »Andererseits…«
    »Andererseits?«
    »… sollten wir vielleicht doch noch ein Stückchen weitergehen. Von dem Felsen da hat man nämlich eine sehr schöne Aussicht.« Er zeigte auf einen mächtigen schwarzen Felsen ein paar hundert Meter oberhalb.
    Sie setzten ihren Weg fort, und er sah alle paar Schritte zu ihr hin. »Sie kommen aus Wien?«
    »Ja. Aber ich lebe schon seit vielen Jahren in München.«
    »Trotzdem haben Sie noch ganz den wienerischen Stil.«
    Seine Hand, die in einem dicken Schaffell-Fäustling 26
    steckte, vollführte eine lässig-elegante Geste. »Meine Mutter und meine Schwester sind übrigens auch hier im Hotel.
    Sie müssen sie unbedingt kennenlernen. Ich meine, die beiden müssen Sie kennenlernen, falls es Ihnen recht ist.« Vor Verlegenheit schoß ihm das Blut in die ohnehin rosigen Wangen. »Darf ich fragen, wie Sie heißen?«
    »Hélène Sacher-Hartmann.« Wieder beugte sie sich über ein kleines Blütenmosaik, pflückte eine rosarote Blume und zog den Stengel durch ein Knopfloch ihres Jankers.
    »Die ist so winzig, daß sie an mir gar nicht zur Geltung kommt«, sagte sie.
    »O nein! Nein, das stimmt ganz und gar nicht.« Als sie von der Felsenhöhe aufs Dorf hinabblickten, zeigte ihr der junge Mann, wo sich die beste Konditorei im Ort befand, gleich um die Ecke hinterm Kirchturm, dort, wo eben der Schlitten mit den zwei Pferden wendete. Seine Mutter und seine Schwester Hedwig – sie war erst vierzehn – kehrten dort jeden Nachmittag um vier zu heißer Schokolade und Kuchen ein.
    »Und Sie gehen nicht mit?« fragte Hélène. Gert errötete wieder. »Nein … jedenfalls nicht heute.« Als Hélène beim Abstieg einmal ausrutschte, griff Gert rasch nach ihrer Hand, die er aber ebenso rasch wieder losließ, als ob er sich verbrannt hätte. »Pardon!« sagte er. Und ein paar Augenblicke später: »Ich bin heute deshalb nicht mitge-gangen, weil ich Sie bei Ihrer Ankunft gesehen habe, und ich … ich wollte Sie unbedingt kennenlernen.«
    »Das ist aber nett«, sagte Hélène lächelnd, doch es klang zerstreut, denn sie hatte nicht wirklich zugehört. Sie konzentrierte sich vielmehr ganz auf die kalte, klare Luft in 27
    ihren Lungen, eine Köstlichkeit, wie ein kühler Schluck Wasser, wenn man durstig ist.
    Der junge Mann sprach mittlerweile von seinem Studium. Er besuchte die Technische Hochschule in Graz und wollte Wasserbauingenieur werden. Beim Hotel angekommen, fragte er, und seine Stimme klang dabei fast fle-hentlich, ob er sie vielleicht… ob sie sich eventuell um halb acht mit ihm und seiner Familie zu einem Aperitif in der Hotelbar treffen würde.
    Hélène, der jedes Zeitgefühl abhanden gekommen war, sah auf ihrer Armbanduhr, daß es fünf
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