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Die Augen der Mrs. Blynn

Die Augen der Mrs. Blynn

Titel: Die Augen der Mrs. Blynn
Autoren: Patricia Highsmith
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unmöglich annehmen!« Elsie hob abwehrend die Hand und wich einen Schritt zurück.
    »Doch, Sie sind sehr gut zu mir gewesen«, sagte Mrs.
    Palmer. Aber sie war so müde, daß ihr Arm aufs Bett zurücksank. »Also schön«, flüsterte sie und sah ein, daß es keinen Zweck hatte.
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    Ihr Sohn kam um sechs Uhr abends, setzte sich zu ihr ans Bett, hielt ihre Hand und küßte sie auf die Stirn. Aber als sie starb, war Mrs. Blynn ihr am nächsten. Ihr rundes Vollmondgesicht mit den Pfirsichwangen beugte sich über sie, und ihre graugrünen Augen blickten so leer wie die eines grimmigen Fabeltiers. Mrs. Blynn sprach bis zuletzt knapp und sachlich mit ihr: »Schön durchatmen. So ist's recht«, sagte sie und: »Kalt ist Ihnen nicht, oder? Gut.« Irgend jemand hatte zuvor davon gesprochen, einen Pfarrer zu holen, aber sowohl Gregory als auch Mrs. Palmer hatten dies abgelehnt. Und so blickte Mrs. Palmer, als sie ihr Leben aushauchte, in die Augen von Mrs. Blynn, die so gebieterisch war, so stark und tüchtig, daß man sie für den Herrgott persönlich hätte halten können. Zumal Mrs.
    Palmer ihren Sohn nicht richtig sehen konnte. Wenn sie zu ihm hinschaute, saß in der Ecke nur eine verschwommene, blaßblaue Gestalt, hochgewachsen und aufrecht, und der dunkle Fleck zuoberst, das waren seine Haare. Er sah sie an, doch sie war schon so schwach, daß sie ihn nicht einmal mehr rufen konnte. Außerdem hatte Mrs. Blynn sowieso alle von ihrem Bett fortgescheucht. Elsie stand sprungbereit an der Tür, für den Fall, daß sie etwas holen oder man ihr irgend etwas auftragen sollte. Sie hatte die kleine Liza neben sich, die hin und wieder leise flüsterte, aber jedesmal von ihrer Mutter zum Schweigen gebracht wurde. Im Zeitraffer sah Mrs. Palmer ihr ganzes Leben an sich vorübergleiten – die sorglose Kindheit und Jugend, die glücklichen Jahre ihrer Ehe, das Herzeleid, als ihr anderer Sohn im Alter von zehn Jahren gestorben war, die Trauer über den Tod ihres Mannes vor acht Jahren – und doch war 20
    es wohl alles in allem ein erfülltes Leben gewesen, auch wenn sie sich vielleicht ein besseres Naturell gewünscht hätte und gern tugendhafter gewesen wäre, nie aufbrausend und egoistisch zum Beispiel. Das war nun alles vorbei, doch zurück blieb ein Gefühl von Fehlerhaftigkeit und Schwäche. Bestes Beispiel dafür war Mrs. Blynns Anwesenheit in diesem Moment; Mrs. Blynn und ihr blasses Lächeln paßten nicht zu Anlaß und Stunde. Mrs.
    Blynn verstand sie nicht. Mrs. Blynn kannte sie nicht. Mrs.
    Blynn hatte keinen Begriff von Güte und Nächstenliebe.
    Daran haperte es, nicht nur bei ihr, sondern überhaupt im Leben. Das Leben, dachte Mrs. Palmer, ist eine lange Kette von Mißverständnissen, eine lange Irrfahrt einander verschlossener Herzen.
    Mrs. Palmer hielt die Amethystbrosche in der geschlossenen Hand. Vor Stunden, irgendwann am Nachmittag, hatte sie sie an sich genommen in der Absicht, sie sicher zu verwahren. Und weil sie sie Gregory noch persönlich geben wollte, was sie dann aber vergessen hatte. Ihre geschlossene Hand hob sich ein paar Zentimeter, ihre Lippen bewegten sich, doch sie brachte keinen Ton heraus.
    Sie wollte die Brosche Mrs. Blynn schenken: eine wohl-meinende, großzügige Geste immerhin für diesen Inbegriff der Verständnislosigkeit, dachte sie, hatte aber nicht mehr die Kraft, ihren Wunsch kundzutun – und auch das deckte sich wieder mit dem Leben schlechthin: Alles kam immer ein kleines bißchen zu spät. Mrs. Palmers Lider schlossen sich, und das letzte, was sie sah, waren Mrs. Blynns glasige, wachsame Augen.
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    Nichts Auffallendes

    Hélène war keine auffallende Erscheinung. Sie war ein bißchen größer als der weibliche Durchschnitt, einsneun-undsechzig, und vielleicht auch attraktiver, aber außergewöhnlich war sie nicht. Ihre Augen wirkten manchmal blau und manchmal grau. Das dunkle, rötlichbraune Haar trug sie in der Mitte gescheitelt und im Nacken zu einem kleinen Knoten geschlungen, der freilich höchstens fünf Minuten hielt, wenn sie sich morgens oder nach dem Bad vor dem Abendessen frisiert hatte. Ihre Lippen waren ein wenig dünn, doch wenn sie lächelte, ließen die stark aufwärts gebogenen Mundwinkel das Lächeln strahlender erscheinen. Ihre Nase war schmal und gerade bis zur Spitze, die jäh nach oben strebte. Hélène fand ihre Nase grotesk und hielt sie für ihren größten Makel. Sie war weder gertenschlank noch pummelig, und ihr Gang wirkte ein bißchen steif, was von einer
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