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Maigret und der Gehängte von Saint-Pholien

Maigret und der Gehängte von Saint-Pholien

Titel: Maigret und der Gehängte von Saint-Pholien
Autoren: Georges Simenon
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1
    Kommissar Maigrets Verbrechen
    Niemand bemerkte etwas. Niemand ahnte auch nur, daß sich im Wartesaal des kleinen Bahnhofs, wo nur sechs Reisende teilnahmslos im Dunst von Kaffee, Bier und Limonade warteten, ein Drama abspielte.
    Es war fünf Uhr nachmittags, und die Nacht brach schon herein. Die Lampen brannten, aber durch die Scheiben konnte man noch erkennen, wie die deutschen und holländischen Zoll- und Bahnbeamten im trüben Zwielicht des Bahnsteigs auf- und abliefen.
    Der Bahnhof Neuschanz liegt nämlich ganz im Norden Hollands an der deutschen Grenze.
    Es ist ein unbedeutender Bahnhof. Neuschanz selbst ist kaum ein Dorf zu nennen und wird von keiner wichtigen Linie berührt. Nur morgens und abends verkehren hier Züge: für die deutschen Arbeiter, die, von den hohen Löhnen angelockt, in niederländischen Fabriken tätig sind.
    Und jedesmal spielt sich das gleiche Ritual ab: Der deutsche Zug hält am einen Ende des Bahnsteigs, der holländische am anderen.
    Die Bahnbeamten mit der rötlichgelben Mütze und die in grüner oder preußischblauer Uniform gehen aufeinander zu und verbringen die für die Zollformalitäten veranschlagte Wartezeit miteinander.
    Da jeder Zug nur ein paar Dutzend Fahrgäste befördert, und zwar immer dieselben, die mit den Zollbeamten auf Du und Du stehen, sind die Formalitäten schnell erledigt.
    Die Leute setzen sich in die Bahnhofsgaststätte, die sich durch nichts von den Bahnhofsgaststätten anderer Grenzbahnhöfe unterscheidet. Die Preise sind in Cents und Pfennigen angegeben. Im Schaukasten liegt holländische Schokolade neben deutschen Zigaretten, und es wird sowohl Genever als auch Schnaps ausgeschenkt.
    An diesem Abend lag etwas Bedrückendes in der Luft. Hinter der Kasse döste eine Frau; ein Dampfstrahl entfuhr der Kaffeemaschine, und durch die offenstehende Küchentür drang das Pfeifen eines Radioapparates, an dem ein Junge herumdrehte.
    Es wirkte anheimelnd, und doch genügten einige Kleinigkeiten, um die Atmosphäre mit einem beunruhigenden Hauch von Abenteuer und Geheimnis zu durchdringen.
    Die Uniformen der beiden Länder zum Beispiel! Dies Nebeneinander von Plakaten, die für den Wintersport in Deutschland einerseits und die Utrechter Messe andererseits warben …
    In einer Ecke die Umrisse einer Gestalt: Ein Mann so um die Dreißig, in fadenscheiniger Kleidung, mit bleichem, unrasiertem Gesicht und einem weichen Hut von undefinierbarem Grau, der wohl schon ganz Europa gesehen hatte.
    Der Mann war mit dem holländischen Zug gekommen. Er hatte eine Fahrkarte nach Bremen vorgezeigt, und der Schaffner hatte ihm auf deutsch erklärt, daß er sich die ungünstigste Strecke ausgesucht habe, auf der keine Schnellzüge verkehrten.
    Der Fahrgast hatte ihm bedeutet, daß er nicht verstand. Er hatte auf französisch Kaffee bestellt und die Neugier aller Umsitzenden auf sich gezogen.
    Seine Augen glänzten fiebrig, lagen zu tief in den Höhlen. Die Art, wie er beim Rauchen die Zigarette an der Unterlippe kleben ließ, genügte, um ihm einen Ausdruck von Erschöpfung oder Verachtung zu verleihen.
    Zu seinen Füßen stand ein Kunstfaserköfferchen, wie jedes Kaufhaus sie führt. Es war neu.
    Nachdem er bedient worden war, zog der Mann eine Handvoll Kleingeld – darunter französische, belgische sowie die kleinen holländischen Silbermünzen – aus der Tasche. Die Kellnerin mußte sich selbst die nötigen Geldstücke herausklauben.
    Weniger auffällig war ein anderer Fahrgast, der sich am Nachbartisch niedergelassen hatte. Ein großer, schwerfällig gebauter Mensch mit ausladenden Schultern. Er trug einen dicken, schwarzen Mantel mit Samtkragen, und der Knoten seiner Krawatte war an einem Zelluloidkragen befestigt.
    Verkrampft saß der erste der beiden Männer an seinem Platz und beobachtete durch die Glastür die Beamten, so als fürchte er, den Zug zu verpassen.
    Der zweite betrachtete ihn gelassen, während er gleichmütig an seiner Pfeife sog.
    Für die Dauer von zwei Minuten verließ der unruhige Reisende seinen Platz, um die Toiletten aufzusuchen, und sogleich – ohne sich auch nur zu bücken – zog der andere das Köfferchen mit dem Fuß zu sich herüber und schob ein zweites, genau gleich beschaffenes an seine Stelle.
    Eine halbe Stunde später fuhr der Zug ab. Die beiden Männer nahmen in demselben Abteil dritter Klasse Platz, wechselten jedoch kein Wort miteinander.
    In Leer stieg alles aus. Der Zug aber setzte seine Fahrt für diese beiden fort.
    Um zehn lief er
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