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Maigret und der Gehängte von Saint-Pholien

Maigret und der Gehängte von Saint-Pholien

Titel: Maigret und der Gehängte von Saint-Pholien
Autoren: Georges Simenon
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in die mächtige, glasgedeckte Halle des Bremer Hauptbahnhofs ein, wo das Licht der Bogenlampen jedes Gesicht fahl erscheinen ließ.
     
    Der erste der beiden Männer schien kein Wort Deutsch zu verstehen, denn erst nachdem er mehrmals die falsche Richtung eingeschlagen hatte und im Bahnhofsrestaurant erster Klasse gelandet war, erreichte er nach einigem Hin und Her das der dritten Klasse, wo er sich nicht setzte, sondern am Büfett stehenblieb.
    Er deutete auf Wurstbrötchen, erklärte gestikulierend, daß er sie mitnehmen wolle, und bezahlte auch diesmal wieder, indem er eine Hand voller Münzen hinstreckte.
    Eine gute halbe Stunde lang irrte er – das Köfferchen in der Hand – durch die breiten Straßen um den Bahnhof, so als suche er etwas Bestimmtes.
    Und der Mann mit dem Samtkragen, der ihm geduldig folgte, erriet, was es war, als er seinen Begleiter endlich nach links, auf ein ärmlicheres Viertel zu hasten sah.
    Was dieser suchte, war ganz einfach ein billiges Hotel. Argwöhnisch prüfte der junge Mann, dessen Gang nun schleppend zu werden begann, mehrere Absteigen, bevor er sich für eine der miesesten, mit einer dicken, weißen Milchglaskugel über der Tür entschied.
    Immer noch trug er das Köfferchen in einer Hand und in der anderen die in eine Papierserviette eingewickelten Wurstbrötchen.
    Die Straße war belebt, und langsam senkte sich Nebel herab, dämpfte die Beleuchtung der Schaufenster.
    Der Mann im dicken Mantel hatte einige Mühe, das Zimmer neben dem seines Reisegefährten zu bekommen.
    Es war ein armseliges Zimmer, das allen armseligen Hotelzimmern der Welt glich, mit dem einzigen Unterschied vielleicht, daß Armseligkeit nirgendwo ganz so trostlos ist wie in Norddeutschland.
    Aber zwischen den beiden Zimmern gab es eine Verbindungstür und in dieser ein Schlüsselloch.
    So konnte der Mann verfolgen, wie der Koffer geöffnet wurde, der nichts als alte Zeitungen enthielt.
    Er sah den Reisenden erblassen, dermaßen, daß es unerträglich mitanzusehen war; sah ihn den Koffer mit zitternden Händen drehen und wenden, die Zeitungen im Zimmer verstreuen.
    Die Brötchen lagen immer noch eingewickelt auf dem Tisch, aber der junge Mann, der seit vier Uhr nachmittags nichts mehr gegessen hatte, schenkte ihnen keinerlei Beachtung.
    Er stürzte zurück zum Bahnhof, verlief sich, mußte zehnmal nach dem Weg fragen, wiederholte immerfort ein Wort, nur so entstellt durch seinen Akzent, daß die Befragten ihn kaum verstanden: »Bahnhof! …«
    In seiner Aufregung und um sich eher verständlich zu machen, ahmte er das Geräusch eines Zuges nach.
    Er gelangte zum Bahnhof, irrte durch die weite Halle, bis er einen Haufen Gepäckstücke entdeckte, und schlich wie ein Dieb näher heran, sich zu vergewissern, daß sein Koffer nicht dabei sei.
    Und jedesmal, wenn jemand mit einem ähnlichen Koffer vorbeiging, fuhr er zusammen.
    Immer noch folgte ihm sein Begleiter, den Blick unverwandt auf ihn geheftet.
    Um Mitternacht erst kehrten sie, einer nach dem anderen, ins Hotel zurück.
    Durch das Schlüsselloch, scharf umrissen, bot sich der Anblick des jungen Mannes, wie er auf einem Stuhl zusammengesackt den Kopf in den Händen hielt. Als er aufstand, schnippte er mit den Fingern – eine Gebärde, die zugleich Wut und Resignation ausdrückte.
    Und dies war das Ende: Er zog einen Revolver aus der Tasche, riß den Mund auf, so weit es nur ging, und drückte ab.
     
    Im nächsten Augenblick war der Raum voller Menschen, unter ihnen Kommissar Maigret, der seinen Mantel mit dem Samtkragen nicht abgelegt hatte und den Neugierigen den Zutritt zu verwehren suchte. Wiederholt vernahm man die Wörter Polizei und Mörder.
    Der junge Mann wirkte im Tode noch jämmerlicher als zuvor. Man sah die Löcher in seinen Schuhsohlen und unter der beim Fallen hinauf gerutschten Hose ein Paar unglaublich roter Socken mit einem bleichen, behaarten Schienbein darüber.
    Ein Polizist erschien, sagte etwas in gebieterischem Ton, worauf die Leute sich im Flur zusammendrängten. Nur Maigret, der sich mittels seiner Kennmarke als Kommissar der Pariser Kriminalpolizei auswies, blieb im Zimmer.
    Der Polizist sprach kein Wort Französisch und Maigret konnte nur ein paar Brocken Deutsch.
    Zehn Minuten später bremste auch schon ein Wagen vor dem Hotel, und Kriminalbeamte in Zivil stürzten herein.
    Anstelle des Wortes Polizei raunte es nun Franzose draußen im Flur, und neugierige Blicke trafen den Kommissar. Es bedurfte jedoch nur weniger Befehle,
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