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Maigret und der Gehängte von Saint-Pholien

Maigret und der Gehängte von Saint-Pholien

Titel: Maigret und der Gehängte von Saint-Pholien
Autoren: Georges Simenon
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Centimes« gesagt.
    Und nachdem der Absender das Porto bezahlt hatte, war er hinausgegangen. Maigret hatte sich den Namen und die Anschrift gemerkt und war dem Mann auf den Fersen geblieben. Einen Moment lang hatte er sogar belustigt mit dem Gedanken gespielt, ihn der belgischen Polizei als Geschenk zu übergeben. Er würde schnell mal beim Chef der Brüsseler Sûreté vorsprechen und beiläufig erwähnen:
    »Mir ist da übrigens vorhin bei einem Glas Gueuse-Lambic so ein fauler Kunde in die Hände geraten … Sie brauchen ihn bloß da und da abzuholen.«
    Maigret war bester Laune gewesen. Eine milde Herbstsonne hatte auf die Stadt herabgeschienen, die Luft mit einem Hauch von Wärme erfüllt.
    Um elf hatte der Unbekannte in einem Laden der Rue Neuve für zweiunddreißig Francs einen Koffer aus Kunstleder oder eher Kunstfaser erstanden und, so zum Spaß, hatte Maigret sich den gleichen gekauft, ohne zu versuchen, sich den weiteren Verlauf des Abenteuers auszumalen.
    Um halb zwölf hatte der Mann ein Hotel aufgesucht, das in einer Gasse lag, deren Namen der Kommissar nicht festzustellen vermochte. Wenig später war er wieder zum Vorschein gekommen und an der Gare du Nord in den Zug nach Amsterdam gestiegen.
    Diesmal hatte der Kommissar doch gezögert. Mag sein, daß der Eindruck, diesem Gesicht schon irgendwo begegnet zu sein, seine Entscheidung beeinflußt hatte …
    »Sicher eine ganz harmlose Geschichte … Aber wenn es nun doch etwas Wichtiges wäre? …«
    Es bestand kein zwingender Grund, sofort nach Paris zurückzukehren. An der holländischen Grenze hatte er über die Geschicklichkeit gestaunt, mit der der Mann seinen Koffer auf das Dach des Waggons schob, bevor sie die Zollkontrolle erreichten, eine Geschicklichkeit, die verriet, daß der Mann mit solchen Situationen vertraut war.
    »Wir werden der Sache schon noch auf den Grund kommen, wenn er erst einmal irgendwo Halt macht!«
    Nur, er hatte in Amsterdam nicht Halt gemacht, sondern lediglich eine Fahrkarte dritter Klasse nach Bremen gelöst. Und dann war die Reise weitergegangen, quer durch das holländische Flachland mit seinen Kanälen, über die Segelboote dahinglitten, so als schwämmen sie inmitten der Felder.
    Neuschanz … Bremen …
    Maigret hatte den Austausch der Koffer aufs Geratewohl vorgenommen. Vergeblich hatte er in stundenlangem Grübeln versucht, den Burschen in eine der der Polizei vertrauten Kategorien einzuordnen:
    »Zu nervös für den echten Gangster internationalen Kalibers … Er könnte natürlich ein Handlanger sein, der einen auf die Spur seiner Bosse bringt … Oder ein Mitglied einer Verschwörerbande, ein Anarchist? … Er spricht aber nur Französisch, und in Frankreich gibt es keine Verschwörungen, nicht einmal aktive Anarchisten! … Ein kleiner Ganove also, ein Einzelgänger? …«
    Aber hätte ein Ganove, der dreißig Tausendfrancsscheine in einfaches Packpapier gewickelt losgeschickt hatte, dermaßen anspruchslos gelebt?
    Der Mann trank nicht, begnügte sich auf den Bahnhöfen, wo der Zug lange Aufenthalt hatte, mit einem hastig hinuntergestürzten Kaffee und hin und wieder einem Brötchen oder einer Brioche.
    Er kannte die Strecke nicht, denn alle naselang erkundigte er sich besorgt – ja, geradezu übertriebene Besorgnis an den Tag legend –, ob er auch auf dem rechten Weg sei.
    Er war nicht kräftig, und doch trugen seine Hände die Merkmale körperlicher Arbeit. Die schwarzen, zu langen Nägel ließen vermuten, daß er seit geraumer Zeit nicht mehr beschäftigt gewesen war.
    Seine Gesichtsfarbe deutete auf Blutarmut oder gar auf ein Leben in bitterer Not hin.
    Und ganz allmählich hatte Maigret vergessen, daß er sich mit der Absicht getragen hatte, der belgischen Polizei einen Gefallen zu erweisen, indem er ihr wie zum Spaß einen an Händen und Füßen gefesselten Missetäter präsentierte.
    Das Rätsel hatte angefangen, ihn zu faszinieren. Er hatte Ausreden erfunden, sich gesagt:
    »Amsterdam-Paris, das ist schließlich keine Entfernung!«
    Und später:
    »Mit dem Schnellzug kann ich in dreizehn Stunden aus Bremen zurück sein …«
     
    Nun war der Mann tot. Er hatte keinerlei belastendes Material bei sich getragen, nichts, was über sein Treiben Aufschluß gegeben hätte, außer einem gewöhnlichen Revolver, der den in Europa gängigsten Stempel trug.
    Er schien sich nur deshalb das Leben genommen zu haben, weil ihm sein Koffer gestohlen worden war. Warum hätte er sich am Bahnhofsbüfett Brötchen kaufen
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