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Maigret und der Gehängte von Saint-Pholien

Maigret und der Gehängte von Saint-Pholien

Titel: Maigret und der Gehängte von Saint-Pholien
Autoren: Georges Simenon
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entgegengesetzte Richtung ein, machten einen Bogen um die neue Kirche, die sich inmitten eines erhöht angelegten, noch ungeebneten Geländes erhob.
    Und schon waren sie in der Stadt, umgeben von Fußgängern, gelb und rot gestrichenen Straßenbahnen, Autos und Schaufenstern.
    Um zur Stadtmitte zu gelangen, mußte man über den Pont des Arches, wo der eilig dahinziehende Strom geräuschvoll gegen die Brückenpfeiler klatschte.
    Sicher warteten in der Rue Hors-Château alle auf Jef Lombard; die Arbeiter unten bei ihren Säurebecken und den von den Zeitungsboten ungeduldig angeforderten Klischees; die junge Mutter droben zwischen den weißen Laken, mit der biederen, alten Schwiegermutter und dem kleinen Mädchen, das die Augen noch nicht aufgeschlagen hatte …
    Und die beiden älteren, zum Stillsein angehaltenen Kinder in dem mit Gehängten geschmückten Eßzimmer …
    Ob nicht jetzt gerade eine andere Mutter, in Reims, ihrem Sohn Geigenunterricht erteilte, während das Dienstmädchen die Kupferstangen an der Treppe polierte, mit dem Staubtuch über das Porzellangefäß wischte, in dem die mächtige Zierpflanze stand? …
    Und in dem Geschäftshaus in Bremen war nun auch Dienstschluß, verließen die Stenotypistinnen und die beiden Angestellten ihr modernes Büro, tauchte das Verlöschen des elektrischen Lichts die Porzellanbuchstaben Joseph Van Damme, Makler, Import-Export in Dunkel. Vielleicht bemerkte eben gerade ein Geschäftsmann mit kurzgeschorenem Haar in einer der Bierstuben bei Wiener Musik:
    »Komisch, der Franzose ist heute nicht da …«
    In der Rue Picpus mochte Madame Jeunet dabei sein, eine Zahnbürste zu verkaufen, oder hundert Gramm Kamille, deren verblaßte Blüten raschelnd in eine Tüte fielen …
    Der Junge machte wohl in dem Zimmer hinterm Laden seine Schularbeiten …
    Die vier Männer gingen im Gleichschritt einher. Ein leichter Wind war aufgekommen, jagte die Wolken über den bleich schimmernden Mond, der nur hin und wieder für die Dauer von Sekunden sichtbar wurde.
    Ahnten sie auch nur, wohin der Weg sie führte?
    Sie kamen an einem erleuchteten Café vorbei, über dessen Schwelle ein Betrunkener ins Freie torkelte.
    »Ich werde in Paris erwartet«, sagte Maigret plötzlich und blieb stehen.
    Und während die drei Männer ihn noch anstarrten, unsicher, ob sie sich über diese Feststellung freuen oder alle Hoffnung aufgeben sollten, und kein Wort zu sprechen wagten, vergrub Maigret beide Hände tief in den Taschen seines Mantels.
    »Fünf Kinder sind in die Sache verwickelt …«
    Sie waren nicht sicher, richtig gehört zu haben, denn der Kommissar hatte die Worte so undeutlich wie im Selbstgespräch gemurmelt. Und schon hatte er sich abgewandt, war nur noch sein breiter Rücken und sein schwarzer Mantel mit dem Samtkragen zu sehen.
    »Eins in der Rue Picpus, drei in der Rue Hors-Château, eins in Reims …«
     
    Vom Bahnhof aus steuerte Maigret direkt auf die Rue Lepic zu, wo die Concierge ihm erklärte:
    »Sie brauchen gar nicht erst raufzugehen. Monsieur Janin ist nicht da … Erst dachte man, es wäre eine Bronchitis, aber dann ist eine Lungenentzündung draus geworden. Sie haben ihn ins Krankenhaus gebracht …«
    Also ließ der Kommissar sich zum Quai des Orfèvres fahren, wo Wachtmeister Lucas gerade mit dem Inhaber einer Bar telefonierte, bei dem Unregelmäßigkeiten vorgekommen waren.
    »Hast du meinen Brief gelesen, alter Junge?«
    »Alles erledigt? Erfolg gehabt?«
    »Keine Spur!«
    Das war einer von Maigrets Lieblingsausdrücken.
    »Haben sich wohl aus dem Staub gemacht, die Brüder? … Ihr Brief hat mich übrigens ganz schön beunruhigt. Hätt mich am liebsten sofort in den Zug nach Lüttich gesetzt … Was war das denn nun für ’ne Bande? Anarchisten? Falschmünzer? Internationale Gangster?«
    »Dumme Bengel!« knurrte Maigret und warf das Köfferchen mit dem, was ein deutscher Fachmann in langen und gewissenhaften Ausführungen als Anzug B bezeichnet hatte, in den Wandschrank seines Büros.
    »Komm mit auf ein Bierchen, Lucas!«
    »Sie sehen aber gar nicht sehr glücklich aus …«
    »Ach was, alter Junge, es gibt doch nichts Ulkigeres als das Leben! … Kommst du?«
    Einen Moment später schoben sie sich durch die Drehtür der Brasserie Dauphine.
    Selten zuvor war Lucas so verstört gewesen, denn was das Bierchen anging, so wurden sechs Gläser Imitations-Absinth daraus, die sein Begleiter beinahe Zug auf Zug hinunterkippte. Das hielt ihn jedoch nicht davon ab, mit beinahe
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