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Maigret und der Gehängte von Saint-Pholien

Maigret und der Gehängte von Saint-Pholien

Titel: Maigret und der Gehängte von Saint-Pholien
Autoren: Georges Simenon
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Abgrundes zu stehen, fürchtete sich, auch nur einen Schritt weiter zu tun. Es war ein Spielen mit der Gefahr, ein Tändeln mit dem Tod, der nun, einmal heraufbeschworen, in unserer Mitte umzugehen schien …
    Einer von uns – van Damme, glaube ich, der als Kind im Kirchenchor gesungen hatte – stimmte das Libera nos an, das die Priester bei der Totenwache singen. Wir fielen ein, sangen im Chor und berauschten uns an dem makabren Spiel.
    Aber wir haben niemand umgebracht in dieser Nacht! Um vier Uhr morgens schwang ich mich über die Mauer und war daheim. Um acht trank ich mit meinen Eltern Kaffee … Und alles war nur noch Erinnerung, verstehen Sie? So, wie man sich eines Theaterstücks erinnert, bei dem es einen gegruselt hat …
    Klein jedoch blieb hier, in der Rue du Pot-au-Noir, und im überspannten Hirn dieses körperlich Schwachen spukten diese Ideen fort, ließen ihm keine Ruhe. Immer wieder in den darauffolgenden Tagen verriet er durch unvermittelte Fragen, daß er nicht aufgehört hatte, sich damit zu beschäftigen.
    ›Glaubst du wirklich, daß es so schwer ist, einen Menschen zu töten?‹
    Man wollte sich keine Blöße geben, war aber auch nicht mehr betrunken, antwortete also ohne rechte Überzeugung: ›Natürlich nicht!‹
    Wer weiß, ob uns die fieberhafte Erregung des Jungen nicht gar eine Art angstvoller Lust verschaffte? … Verstehen Sie mich recht, wir wollten keine Tragödie! Es ging uns nur darum, bis zur äußersten Grenze vorzudringen …
    Bei einer Feuersbrunst wünschen die Zuschauer sich auch ganz unwillkürlich, daß sie dauert, daß ein ›ordentlicher Brand‹ daraus wird, und wenn das Wasser steigt, so hofft der Zeitungsleser auf eine ›ordentliche Überschwemmung‹, von der man noch in zwanzig Jahren sprechen wird.
    Irgend etwas Interessantes, egal was!
    Der Weihnachtsabend brach an. Jeder brachte etwas zu trinken mit. Wir tranken, sangen, und Klein, der schon recht blau war, zog bald diesen, bald jenen zur Seite:
    ›Glaubst du, ich wäre imstande, jemand umzubringen?‹
    Wir nahmen es nicht weiter tragisch. Um Mitternacht war keiner mehr nüchtern. Es sollten neue Flaschen geholt werden.
    In dem Moment erschien Willy Mortier im Smoking; alles Licht schien sich auf seine weiße Hemdbrust zu konzentrieren. Er sah gesund aus, roch nach Kölnisch Wasser. Er sagte, er komme eben von einem großen Empfang.
    ›Hol uns was zu trinken!‹ rief Klein ihm entgegen.
    ›Du bist betrunken, Freund! Ich bin bloß vorbeigekommen, um euch ein frohes Fest zu wünschen …‹
    ›Du meinst wohl, um uns anzugucken!‹
    Noch konnte man nicht ahnen, was bevorstand. Und doch war Kleins Gesicht nie zuvor im Rausch so erschreckend gewesen. Er wirkte so schmal, so kümmerlich neben dem anderen. Sein Haar hing wirr herab, Schweiß lief ihm über die Stirn, und seine Krawatte war ihm abhanden gekommen.
    ›Du bist besoffen wie ein Schwein!‹
    ›Gut, dann laß dir von dem Schwein sagen, du sollst was zu trinken holen …‹
    In dem Augenblick, glaube ich, bekam Willy doch Angst. Er muß gespürt haben, daß das kein Scherz mehr war; trotzdem behielt er seine arrogante Haltung bei.
    Er hatte sehr dunkles Haar, man roch die Brillantine.
    ›Also lustig seid ihr hier ja nicht gerade!‹ ließ er fallen. ›Da waren ja die Spießbürger, von denen ich komme, noch amüsanter …‹
    ›Hol was zu trinken!‹
    Und mit flackerndem Blick umkreiste ihn Klein. In einer Ecke wurde über Gott weiß welche Theorie Kants debattiert, anderswo beteuerte einer fortwährend schluchzend, er habe kein Recht zu leben.
    Einen klaren Kopf hatte keiner von uns mehr, und keiner hat alles gesehen … Plötzlich ist Klein – ein zitterndes Nervenbündel – hochgeschnellt und hat zugeschlagen …
    Es sah aus, als wolle er seinen Kopf in die Hemdbrust rammen, dann sahen wir das Blut hochspritzen und Willys Mund, der sich immer weiter öffnete …«
     
    »Nein!« fiel Jef Lombard ihm flehentlich ins Wort. Er war aufgestanden, blickte Belloir völlig verstört an.
    Van Damme hatte sich wieder mit halb abgewandtem Oberkörper an die Wand gepreßt.
    Doch nun vermochte Belloir nichts mehr aufzuhalten, nicht einmal sein eigener Wille hätte es vermocht. In der hereinbrechenden Dämmerung wirkten die Gesichter grau.
    »Alles war in Bewegung geraten«, hob die Stimme abermals an, »bloß Klein stand da, zusammengesunken, ein Messer in der Hand, und stierte benommen auf den schwankenden Willy … So etwas verläuft ganz anders, als man
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