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Betongold

Betongold

Titel: Betongold
Autoren: Tom Westerhoff
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Prolog
    Im Morgengrauen parkte er den Wagen unterhalb der Marieneiche. Bewegungslos saß er im Auto; seine Hände hielt er zitternd am Lenkrad. Warum war er gerade hierher gefahren? Er kannte den Ort seit vielen Jahren. Gedankenbilder blitzten vor seinen geschlossenen Augen auf. Die Erinnerung kam zurück.
    Hier konnte ihn keiner finden, und selbst wenn, sie würden sich nicht trauen, zu ihm zu kommen, zuviel Dornen, zuviel Brennnesseln.
    Ein gutes Versteck dachte er sich, sein Versteck, während die Tränen das von Dornen zerschundene, blutige und dreckverschmierte Gesicht hinunterliefen.
    Seine Wange glühte noch von der Backpfeife, die er ihm verpasst hatte.
    Â»Dir werde ich die Hammelbeine langziehn«, hatte er ihm hinterhergeschrien, als er wutentbrannt aus dem Haus gelaufen war, die lange Straße an den Häusern seiner Freunde entlang, den Berg hoch bis zur Marieneiche und dann mitten in den Wald hinunter zum Bach hinein in das Dickicht, das ihm Schutz gab.
    Â»Ich komme nie mehr zurück«, hatte er zurückgeschrien, »nie mehr«, während er durch die Straße gehetzt war, getrieben von der Angst vor weiteren Schlägen und dem Hass, den er immer empfand, wenn es wieder passiert war.
    Er konnte sich nicht erinnern, wie oft er schon Schutz gesucht hatte in seinem Versteck, manchmal war er auch nur so hierher gekommen, um alleine zu sein. Niemand kannte den Ort, nicht einmal Ernst, seinen besten Freund hatte er eingeweiht. Man konnte niemandem trauen, nicht einmal seinem besten Freund.
    Das erste Mal war eher Zufall. Er war zehn Jahre alt und sie spielten unweit des Verstecks im Wald Asterix und Obelix. Sie hatten sich aus Ästen und Heuballen, die sie auf einer Wiese von Ernsts Vater mitgenommen hatten, ihr kleines unbesiegbares Dorf mit ihren Hütten gebaut. Jeder seine Eigene.
    Jeder wollte Asterix sein oder Miraculix oder wenigstens Obelix, niemand wollte Methusalix sein oder Troubadix. Jetzt war er Asterix, aber es hatte einen harten Kampf gegeben.
    Ihr Geld waren geschliffene Steine, jeder hatte geschliffene Steine, aber seine waren die schönsten. Für 10 geschliffene Steine kaufte er sich die Stimmen von Ina, Paul und Erwin und löste Ernst als Asterix ab, der aufgrund der Heuballen seines Vaters beschlossen hatte, er müsse Asterix sein. Die Entscheidung fiel dann, nachdem sie Ernst überzeugt hatten, dass der große starke Automatix ein gleichwertiger Ersatz war, obwohl sein hagerer Freund dem nicht im geringsten entsprochen hatte, aber da hatte die Sonne ihr Dorf bereits verlassen.
    Er hätte schon längst zuhause sein müssen, man wartete nicht gerne mit dem Essen. Punkt sechs bist du zuhause. Es war sieben und er hatte noch fünfzehn Minuten zu laufen.
    Von Weitem hörte er seine Stimme. »Wo bist du?« schallte es. Alle schauten ihn an. Ernst, der starke Automatix, Ina, die schöne Falbala, Erwin, der weise Miraculix und Paul, der dicke Obelix. Totenstille. Gleich würde er da sein.
    Â»Lauf«, flüsterte die schöne Falbala.
    Und er lief von der Stimme weg, zuerst ganz langsam, dann immer schneller ins Dickicht hinein, achtete nicht auf Dornen oder Brennnesseln, fiel hin, schlug sich das Knie auf, rappelte sich wieder hoch und lief weiter. Immer weiter.
    Irgendwann hörte er die Stimme nicht mehr. Er hörte auf zu laufen. Kroch weiter, bis die untergehende Sonne ihm sein Versteck zeigte. Eine kleine Lichtung inmitten des Waldes. Zusammengekauert saß er auf einem Stein, umgeben von dornigen Büschen, die Sonne blinzelte mit ihren letzten Strahlen auf seine geschundenen Knie, der kleine Bach schlängelte sich an ihm vorbei. Hier findet er mich keiner, dachte er, selbst er nicht. Langsam beruhigte er sich. Bald muss er weg, er geht immer abends weg, dann gehe ich nach Hause. Ihm war kalt, er hatte Hunger. Nach Hause.

Mittwoch
    Mit einem Ruck saß er im Bett und hielt sich den Kopf. Ein Scheißtraum dachte Paul Kunkel und rieb sich das Gesicht mit beiden Händen. Er spürte die kalte Luft an seinem verschwitzten T-Shirt. Paul Kunkel wusste nur allzu gut, dass die Nacht für ihn gelaufen war. Er schaute auf die rot leuchtenden Zahlen an der Wand. Der Projektionswecker, den er von Tobias zum 46. Geburtstag bekommen hatte, zeigte 5 Uhr 21, wenigstens konnte er das endlich erkennen. Er dachte an seinen Geburtstag im April.
    Tobias hatte an dem Geburtstagsmorgen auf dem Esstisch vier große und sechs
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