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Die Schattenhand

Die Schattenhand

Titel: Die Schattenhand
Autoren: Agatha Christie
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Erstes Kapitel
    I
     
    A ls ich den Gips endlich los war und die Ärzte mich nach allen Regeln der Kunst zurechtgebogen hatten und ich unter gutem Zureden der Schwestern zaghaft begann, meine Gliedmaßen wieder zu gebrauchen, und die Babysprache, mit der sie mich traktierten, mir gründlich zum Hals heraushing, verordnete Marcus Kent mir eine Dosis Landleben.
    «Gute Luft, Beschaulichkeit, Faulenzen – das ist das beste Rezept für Sie. Ihre Schwester soll sich um Sie kümmern. Essen Sie, schlafen Sie und frönen Sie ansonsten dem Stumpfsinn.»
    Ich fragte ihn nicht, ob ich je wieder imstande sein würde zu fliegen. Manche Fragen stellt man nicht, aus Angst vor der Antwort. So hatte ich mich während der vergangenen fünf Monate auch gehütet zu fragen, ob ich den Rest meines Lebens ans Bett gefesselt bleiben würde. Ich fürchtete die heuchlerisch-muntere Schelte der Krankenschwester: «Nein wirklich, wie reden Sie denn! So etwas wollen wir gar nicht hören!»
    Also hatte ich nicht gefragt – und Glück gehabt. Ich würde kein hilfloser Krüppel sein. Ich konnte meine Beine bewegen, auf ihnen stehen, schließlich sogar ein paar Schritte wagen, und wenn ich mir dabei wie ein Kleinkind bei den ersten abenteuerlichen Gehversuchen vorkam, mit schlackernden Knien und Fußsohlen, die sich anfühlten wie aus Watte – nun, das war Schwäche und mangelnde Übung und würde nicht ewig dauern.
    Marcus Kent, der ein guter Arzt ist, gab mir die Antwort auch so.
    «Sie werden wieder völlig gesund», sagte er. «Bis zur Abschlussuntersuchung am Dienstag waren wir etwas im Zweifel, aber jetzt kann ich es mit Gewissheit sagen. Allerdings wird es eine langwierige Geschichte. Langwierig und, das sage ich Ihnen gleich, mühselig. Bei verletzten Nerven und Muskeln muss das Gehirn dem Körper nachhelfen. Nichts ist so schädlich wie Ungeduld und Aufregung. Und glauben Sie ja nicht, es sei ‹alles nur eine Frage der Willenskraft›. Dann landen Sie sofort wieder im Sanatorium. Sie müssen das Leben langsam und locker angehen, Adagio sozusagen. Nicht nur Ihr Körper muss zu Kräften kommen, die vielen Medikamente, die wir Ihnen geben mussten, haben auch Ihre Nerven geschwächt. Deshalb mein Rat: Gehen Sie aufs Land, mieten Sie ein Haus, nehmen Sie Anteil an der Lokalpolitik, an Klatsch und Tratsch und Dorfskandalen. Stecken Sie die Nase in die Angelegenheiten Ihrer Nachbarn. Und wenn ich Ihnen noch eine Empfehlung geben darf: Suchen Sie sich eine Gegend, wo Sie keine Bekannten in der Nähe haben.»
    Ich nickte. «Das», sagte ich, «hatte ich sowieso vor.»
    Nichts schien mir unerträglicher als die Vorstellung, dass meine alten Freunde vorbeischauen könnten, überquellend von Mitleid und ihren eigenen Geschichten.
    «Du siehst großartig aus, Jerry – sieht er nicht großartig aus? Phantastisch. Jerry, du glaubst nicht, was Buster sich wieder geleistet hat…»
    Ohne mich. Hunde sind weise. Sie verziehen sich in eine stille Ecke, um ihre Wunden zu lecken, und kehren erst ins Leben zurück, wenn sie wiederhergestellt sind.
    So kam es, dass Joanna und ich aus der Fülle von «Objekten» überall auf den Britischen Inseln, die die Makler in so glühenden Farben priesen, auch Little Moor bei Lymstock zur Besichtigung auswählten – hauptsächlich deshalb, weil wir nie in Lymstock gewesen waren und niemanden dort kannten.
    Und als Joanna Little Moor sah, wusste sie auf der Stelle, dass es das Richtige für uns war.
    Es lag etwa eine halbe Meile oberhalb von Lymstock, an der Straße, die ins Moor hinaufführte – ein adrettes Häuschen, niedrig und weiß, mit einer schräg überdachten, blassgrünen viktorianischen Veranda und einem hübschen Blick auf sacht abfallendes Heideland, an dessen linkem unterem Rand der Kirchturm von Lymstock ins Bild ragte.
    Little Moor hatte einer Familie von «Fräuleins» gehört, den Misses Barton, von denen nur noch eine übrig war, die jüngste, Miss Emily.
    Miss Emily Barton war eine reizende kleine alte Dame, die bestens zu ihrem Haus passte. Mit leiser, entschuldigender Stimme erklärte sie Joanna, sie habe Little Moor noch nie vermietet, ja, nicht einmal im Traum daran gedacht, «aber wissen Sie, meine Liebe, es ist alles so anders als früher – die Steuern, und dann meine Aktien und Wertpapiere, ich habe sie immer für etwas so Sicheres gehalten, ein paar davon hat mir sogar der Bankdirektor persönlich empfohlen, aber sie scheinen heutzutage rein gar keinen Gewinn abzuwerfen – alles
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