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Maigret und der Gehängte von Saint-Pholien

Maigret und der Gehängte von Saint-Pholien

Titel: Maigret und der Gehängte von Saint-Pholien
Autoren: Georges Simenon
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Zeitungen erfuhr ich, daß Klein sich im Februar darauf am Kirchenportal von Saint-Pholien erhängt hatte …
    Eines Tages traf ich Janin in Paris. Wir haben die Tragödie nicht erwähnt. Er sagte mir nur, daß er sich ebenfalls in Frankreich niedergelassen habe.«
    »Ich bin als einziger in Lüttich geblieben«, knurrte Jef Lombard, ohne aufzublicken.
    »Sie haben Gehängte und Kirchtürme gezeichnet!« bemerkte Maigret. »Dann haben Sie Zeichnungen für Zeitungen angefertigt, und dann …«
    In Gedanken sah er das Haus in der Rue Hors-Château vor sich, die Fenster mit den kleinen, grünlich gefärbten Scheiben, den Brunnen im Hof, das Porträt der jungen Frau, das Büro des Fotograveurs, in dem Plakate und Titelseiten von Illustrierten nach und nach die Gehängten an den Wänden zu überdecken begannen.
    Und die Kinder! … Das dritte, das am Vorabend zur Welt gekommen war …
    Waren denn nicht inzwischen zehn Jahre verstrichen? Hatte das Leben nicht überall, Schritt für Schritt, mit mehr oder minder Geschick, wieder seinen normalen Gang genommen?
    Van Damme hatte sich wie die beiden anderen zuerst in Paris herumgetrieben und war dann durch einen Zufall in Deutschland gelandet. Seine Eltern hatten ihm Geld hinterlassen, so war er in Bremen ein angesehener Geschäftsmann geworden.
    Maurice Belloir hatte eine gute Partie gemacht. Er hatte es zu etwas gebracht.
    Stellvertretender Bankdirektor, und dazu das schmucke, neue Haus in der Rue de Vesle, das Kind, das Geigenunterricht erhielt …
    Seine Abende verbrachte er beim Billard in dem behaglichen Café de Paris, in Gesellschaft von Leuten, die ebenso angesehen waren wie er …
    Janin begnügte sich mit Zufallsliebschaften, verdiente sich seinen Lebensunterhalt mit der Herstellung von Schaufensterpuppen und modellierte am Feierabend die Büste seiner Geliebten …
    Hatte Lecocq d’Arneville nicht auch geheiratet? Hatte nicht auch er Frau und Kind in der Kräuterhandlung der Rue Picpus? …
    Der Vater Willy Mortiers kaufte weiter Därme, die er säuberte und lastwagenweise, ja selbst waggonweise verkaufte. Und er fuhr fort, Amtmänner zu bestechen und sein Vermögen zu vermehren.
    Seine Tochter hatte einen Kavallerieoffizier geheiratet, und weil dieser sich nicht zum Eintritt in das Geschäft des Schwiegervaters entschließen konnte, hatte Mortier sich geweigert, ihm die versprochene Mitgift auszuzahlen.
    Das Paar lebte in irgendeiner kleinen Garnisonsstadt.

11
    Der Kerzenstummel
    Es war schon fast dunkel. Im grauen Zwielicht verschwammen die Gesichter, und zugleich trat jeder einzelne Zug um so stärker hervor.
    Lombard, dem das Halbdunkel auf die Nerven zu gehen schien, sagte gereizt:
    »Können wir denn nicht endlich Licht machen?«
    Es fand sich noch ein Kerzenstummel in der Laterne, die seit zehn Jahren dort an ihrem Nagel hing und dem Hausbesitzer, der nie zu seinem Geld gekommen war, zusammen mit der durchgesessenen Couch, dem Rest Chintz, dem unvollständigen Skelett und den Skizzen des Mädchens mit den nackten Brüsten überlassen worden war. Maigret zündete den Stummel an, und Schatten tanzten über die Wände, die, durch das Licht hinter den bunten Glasscheiben angestrahlt, rot, gelb und blau gefärbt erschienen, wie von einer Laterna Magica beleuchtet.
    »Wann ist Lecocq d’Arneville zum ersten Mal zu Ihnen gekommen?« fragte der Kommissar an Maurice Belloir gewandt.
    »Es muß so etwa drei Jahre her sein. Er kam ganz unerwartet … Das Haus, welches Sie gesehen haben, war eben fertig geworden, und mein Sohn fing gerade an zu laufen …
    Ich war betroffen von seiner Ähnlichkeit mit Klein – weniger eine äußerliche Ähnlichkeit als etwas in seinem Wesen, das gleiche verzehrende Fieber, die gleiche krankhafte Nervosität.
    Er kam als Feind, war verbittert oder verzweifelt. Ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll …
    Er grinste, sprach in schroffem Ton, gab vor, die Einrichtung meines Hauses zu bewundern, meine Stellung, mein Leben, meinen Charakter, und dabei spürte ich – so wie früher bei Klein, wenn er betrunken war –, daß er jeden Moment in Tränen ausbrechen konnte!
    Er dachte, ich hätte vergessen … Aber das stimmte nicht! Ich hatte nur weiterleben wollen, verstehen Sie? Und um leben zu können, habe ich geschuftet wie ein Kuli …
    Er war dazu nicht imstande gewesen … Natürlich darf man nicht vergessen, daß er nach jenem Weihnachtsabend noch zwei Monate mit Klein zusammengewohnt hat. Wir anderen waren längst fort, sie
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