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Maigret und der Gehängte von Saint-Pholien

Maigret und der Gehängte von Saint-Pholien

Titel: Maigret und der Gehängte von Saint-Pholien
Autoren: Georges Simenon
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hierher kam er bloß, um den Unterschied zwischen sich, dem Reichen, und den anderen zu messen.
    Er trank keinen Alkohol, blickte voller Abscheu auf diejenigen unter uns, die betrunken waren. Im Verlauf unserer endlosen Diskussionen ließ er nur gelegentlich ein Wort fallen, und das war jedesmal wie eine kalte Dusche. Seine Bemerkungen verletzten uns, weil sie rücksichtslos all die falsche Romantik zerstörten, die wir mühsam geschaffen hatten.
    Er verabscheute uns, und wir verabscheuten ihn! Dazu war er noch auf eine zynische Art geizig … Es gab Tage, wo Klein nichts zu essen hatte und wir ihm aushalfen, mal der eine, mal der andere. Mortier allein erklärte:
    ›Ich möchte nicht, daß zwischen uns von Geld die Rede ist; ihr sollt mich nicht nur, weil ich reich bin, akzeptieren!‹
    Und wenn die anderen ihre letzten Sous zusammenkratzten, um gemeinsam etwas zu trinken zu kaufen, achtete er darauf, nicht mehr als seinen Anteil beizusteuern.
    Lecocq d’Arneville gehörte zu denen, die ihm seine Texte kopierten; und ich habe selbst mitangehört, wie Willy sich weigerte, ihm einen Vorschuß auf die Arbeit zu geben …
    Er war das fremde, das feindliche Element, das in beinahe jedem Kreis von Männern zu finden ist.
    Man ertrug ihn eben. Nur Klein griff ihn aufs Heftigste an, besonders wenn er betrunken war, warf ihm alles, was er auf dem Herzen hatte, vor. Der andere ließ diese Angriffe wortlos, die Lippen verächtlich verzogen, über sich ergehen und wurde höchstens ein wenig blaß.
    Ich habe vorhin von verschiedenen Graden der Aufrichtigkeit gesprochen; die Ehrlichsten waren zweifellos Klein und Lecocq d’Arneville, die eine brüderliche Zuneigung verband. Beide hatten eine schwere Kindheit an der Seite einer notleidenden Mutter durchgemacht, beide strebten nach einem besseren Leben, empfanden die gleiche Verbitterung angesichts der unüberwindlichen Hindernisse …
    Klein war gezwungen, tagsüber als Anstreicher zu arbeiten, um die Abendkurse der Akademie besuchen zu können. Er gestand uns, daß ihm schwindlig wurde, sobald er auf die obersten Sprossen einer Leiter steigen mußte … Lecocq schrieb Vorlesungstexte für andere ab und gab ausländischen Studenten Französischunterricht. Er kam oft hierher essen – der Kocher muß noch irgendwo stehen …«
    Er stand in der Nähe der Couch, und Jef stieß ihn schwermütigen Blickes mit dem Fuß an.
     
    Maurice Belloir, dessen glattfrisiertes Haar nicht eine unordentliche Strähne aufwies, nahm den Faden der Erzählung in ausdruckslosem, nüchternen Tonfall wieder auf:
    »Inzwischen habe ich gelegentlich in den Salons angesehener Bürger in Reims jemanden zum Spaß die Frage stellen hören: ›Wären Sie unter bestimmten Umständen imstande, einen Menschen zu töten?‹
    Oder auch die andere, Ihnen sicherlich bekannte Frage: ›Wenn Sie nur auf einen elektrischen Schaltknopf zu drücken brauchten, um einen im fernsten China lebenden, steinreichen Mandarin zu töten und anschließend zu beerben, würden Sie es tun?‹
    Hier in diesem Raum, wo die erstaunlichsten Themen uns als Vorwand zu nächtelangen Diskussionen dienten, mußte das Rätsel von Leben und Tod auch einmal zur Sprache kommen …
    Es war kurz vor Weihnachten. Eine Zeitungsnotiz gab den Anstoß … Es hatte geschneit … Und natürlich mußten sich unsere Ansichten von den hergebrachten unterscheiden!
    So waren wir denn auch Feuer und Flamme für Theorien wie: Der Mensch ist nichts als ein Schimmelpilz an der Erdkruste, sein Leben oder Tod hat keine Bedeutung. Oder: Mitleid ist nur eine Art Krankheit; die großen Tiere fressen die kleinen, und wir fressen die großen.
    Lombard hat Ihnen das mit dem Taschenmesser erzählt, wie er sich ins Fleisch schnitt zum Beweis, daß der Schmerz nicht existiert.
    So haben wir denn in jener Nacht, als schon drei oder vier leere Flaschen am Boden lagen, auch allen Ernstes das Töten eines Menschen erörtert.
    Es war schließlich eine rein theoretische Debatte, wo alles erlaubt ist … Und einer fragte den anderen:
    ›Würdest du dich getrauen?‹
    Dabei begannen die Augen zu glänzen, und Schauder krankhafter Erregung liefen uns den Rücken hinab.
    ›Warum nicht? Wo das Leben doch nichts als ein Zufall ist, eine Art Ausschlag an der Erdkruste!‹
    ›Einen x-beliebigen Menschen auf der Straße? …‹
    Und Klein, der am betrunkensten von allen war, rief mit bleichem Gesicht und Ringen unter den Augen:
    ›Ja!‹
    Man hatte das Gefühl, ganz nah am Rand eines
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