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Isis

Isis

Titel: Isis
Autoren: Brigitte Riebe
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Ich kenne das Gestern und habe das Morgen gesehen. »Die Augen des Nil«, so nannten sie mich, als ich noch die Gabe besaß, wenngleich ich nur das verborgene Schicksal anderer sehen konnte, jedoch blind war bei allem, was mich selbst betraf. Aus Liebe habe ich diese Gabe schließlich aufs Spiel gesetzt - und verloren. Seitdem gibt es für mich nur noch die Leere und darin, eingebettet wie in einen Kokon, die Vergangenheit, vorsichtig atmend, damit kein Unbefugter sie aufspüren kann.
    Bei den Tränen der Isis: Nichts ist so schmerzlich wie die Liebe, die im Herzen aller Geschöpfe wohnt. Ich habe für diese Erfahrung einen hohen Preis bezahlt. Erst nach und nach lernte ich zu begreifen, dass Vergessen und Erinnern keine Gegensätze sind. Man muss sich erinnern können, um zu vergeben - und zu vergeben bedeutet auf seine Art zu vergessen.
    Dabei wäre es mir noch immer am liebsten, es gäbe gar keine Geschichte zu erzählen. Lange Zeit habe ich daher eifersüchtig über sie gewacht, um sie wenigstens zu beschützen, wenn ich sie schon nicht ungeschehen machen konnte. Nun jedoch hat sich etwas ereignet, was niemand vorhersehen konnte, und ich werde nicht länger schweigen. Denn das Wort allein, das der Schöpfergott Ptah uns geschenkt hat, ist stärker als jede Waffe, mächtiger sogar als der Tod: das Einzige, was uns Menschen helfen kann, den Schmerz unserer Existenz im Angesicht der Endlichkeit zu begreifen.
    Der Morgen, der alles für mich verändern sollte, begann wie gewohnt. Das Jahr ging zur Neige und die Tage zwischen den Zeiten waren angebrochen, die Isis und ihren göttlichen Geschwistern geweiht sind. Längst hatten die Bauern ihre Arbeiten an den Bewässerungsanlagen beendet. Auch ihre Tiere waren bereits vor der Flut evakuiert. Überall sah man gereinigte Kanäle mit ihren aufgeschütteten Dämmen, die sich wie ein exaktes Muster durch die rissige Erde zogen. Sie würden das Nilwasser zunächst aufstauen, um es später nach dem Durchstich auf die Felder zu leiten.
    Natürlich hatte die allgemeine Unruhe vor dem Neujahrsfest, das mit dem Einsetzen der Flut gefeiert wird, auch mich ergriffen. Wir alle auf der Insel Philae fieberten dem Tag entgegen, an dem die Tränen der Isis den großen Fluss endlich über die Ufer treten lassen würden. Ein paar Gänse schnatterten im Schilf; ein Reiher stieß seine heiseren Schreie aus.
    Noch schliefen die anderen Bewohner der Tempelanlage, die große Hitze würde sich erst später auf das Flussufer legen.
    Eine kurze Nacht lag hinter mir, die ich auf dem Flachdach verbracht hatte, um der Schwüle drinnen zu entfliehen.
    Vor Tagesanbruch stieg ich hinunter. Meine Knöchel waren geschwollen, als hätte ich im Traum eine weite Strecke zurückgelegt; mein Zehenstumpf pochte. Ich dehnte und streckte mich, um die Steifheit aus meinen Gliedern zu vertreiben. Die Morgentoilette verrichtete ich ohne den Kupferspiegel, der irgendwo herumlag. Mein Gesicht mit dem Leberfleck interessierte mich schon lange nicht mehr. Nicht einmal meinen Körper hasste ich noch, einst in seiner Besonderheit ebenso verstörend wie verlockend für mich und andere. Ich war schon zufrieden, wenn das Feuer in meinem Magen schwieg. Dass der ungleiche Gang, zu dem die Behinderung mich zwang, die linke Hüfte stärker belastete, war mir zur lästigen Gewohnheit geworden.
    Ich knüpfte das Lederband auf, das die Holzprothese hielt, und massierte meinen Stumpf, bevor ich sie erneut anlegte und fester verschnürte. Inzwischen bewegte ich mich damit so behände, dass Fremde meine Beeinträchtigung oft nicht einmal bemerkten. Wie gewöhnlich zog ich eines der frischgescheuerten weißen Leinengewänder an und trank etwas Wasser, weil meine Eingeweide in letzter Zeit sogar gegen stark verdünnten Wein rebellierten. Dann wandte ich mich der Nische zu, die das Kostbarste meines bescheidenen Zuhauses barg: eine kleine Statue der Herrin der zehntausend Namen, der Mutter aller Mütter.
    Die Göttin kniete auf einem Sockel, den Kopf nach links gewandt. Ein Pektoral lag um Ihren Hals, Reifen schmückten die erhobenen Arme, die in gefiederten Schwingen ausliefen.
    Das Kleid, das nach der herrschenden Mode die Brüste freigab, erinnerte an einen Schuppenpanzer, Huldigung an die allmächtige Herrin der Schlangen. Je nach Lichteinfall ließ der Schiefer, aus dem die Statue gefertigt war, Sie einmal grau, dann wieder eher grünlich erscheinen, ein schweres Material, aber so perfekt bearbeitet, dass es bei der Berührung wie
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