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Isis

Isis

Titel: Isis
Autoren: Brigitte Riebe
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seidiger Stoff wirkte.
    Unzählige Male hatte ich vor diesem Isis-Bild schon mein Ritual verrichtet, hastig und dann wieder gelassen, voller Zweifel, den Tränen nah oder erfüllt mit Freude. Ich war sicher, die Göttin kannte meine Stimme, die sich manchmal schlaftrunken zu Ihr erhob, während die Sonnenscheibe sich im Leib der Nut vom Greis in ein Neugeborenes zurückverwandelte. Am liebsten waren mir jedoch jene intimen Momente der Dämmerung, wenn der Himmel in durchsichtigem Dunkelblau über der Wüste stand und den Morgen ankündigte. Dann hatte ich das Gefühl, Sie ganz direkt zu erreichen.
    Ich räusperte mich und wollte mit dem ersten Satz meiner Anrufung beginnen. Doch zu meinem Erstaunen konnte ich nicht sprechen. Meine Zunge lag rau im Mund, der Hals war wie zugeschnürt.
    Göttliche Mutter, was haben wir getan?
    Auf einmal war alles wieder gegenwärtig, als wäre es erst gestern gewesen. Wir hatten uns angemaßt, Schicksal zu spielen. Und waren dafür bestraft worden - meine Brüder mit dem Tod, ich mit Verbannung, was mir, je länger ich lebte, als das härtere Los erschien. Denn die Lebenden mögen ihre Toten vergessen, die Toten aber lassen die Lebenden niemals ruhen, solange alte Schuld noch offen ist. Ich hatte schon zu hoffen gewagt, der Schmerz würde nach und nach an Schärfe verlieren. Jetzt aber war die Wunde plötzlich wieder offen.
    Gebrauche nicht den Kopf, gebrauche dein Herz ... Kam diese Aufforderung von Ihr, der Beschützerin aller Frauen, die den Sternen ihre Wege weist und die Bahnen von Sonne und Mond ordnet? Aber durfte ich mich überhaupt zu den von Ihr Beschirmten zählen? Und wusste Isis nicht besser als jede andere Gottheit, dass es gerade das Herz gewesen war, das mich vom Weg abgebracht und in Verzweiflung geführt hatte?
    Hilf mir, Isis!, bat ich stumm. Was soll ich tun, um Frieden zu finden?
    Die Statue blieb regungslos, und doch glaubte ich plötzlich einen Lufthauch zu spüren, als hätten die steinernen Schwingen sich leicht bewegt. Und ich begann zu weinen, endlich.
    Die Feuchtigkeit verlor sich in meinen Haaren, die noch immer lang und lockig waren, wenngleich seit jener unvergessenen Nacht von silbernen Fäden durchzogen. Ich hatte nicht einmal geahnt, dass ich so viele Tränen in mir barg, denn meine Augen waren all die Jahre trocken geblieben: als Ruza starb, meine Mutter, die mich niemals geboren hatte, als wir Anu im Wüstensand betrauerten; sogar als Bewaffnete Khay in Fesseln abgeführt hatten. Tränen wie die ewigen Fluten des Nil, die das verdörrte Land aus seiner Erstarrung erlösen.
    Auf einmal konnte ich den niedrigen Raum nicht mehr ertragen. Fast blind vom Weinen stolperte ich nach draußen.
     
    oooo
     
    Ich wusste nicht, wie viel Zeit verstrichen war, der warme Wind jedoch, der von Süden kam, hatte mein Herz gereinigt.
    »Da bist du ja endlich!«
    Es war Maram, die mich rief, anmutig und geheimnisvoll wie alle ihres Volkes. Als sie vor drei Sommern zu uns gekommen war, damals eher noch Kind als junge Frau, bedeckten lange Tuchröcke ihre Hüften und Beine, braun gefärbt mit dem Extrakt der Mimosenrinde, wie sie erklärte, nachdem sie sich einigermaßen in unserer Sprache ausdrücken konnte. Ihre Heimat war Punt, das Land Gottes, wie wir in Kernet es nennen, wo eine der zahlreichen königlichen Goldexpeditionen sie aufgegriffen und nach Sunu verschleppt hatte. Dunkelhäutige Schönheiten wie sie erfreuen sich auf dem hiesigen Sklavenmarkt so großer Beliebtheit, dass sie in Silber aufgewogen werden; kaum einer gelingt jemals die Flucht. Maram jedoch hatte entkommen können und war, halb verhungert und erschöpft, schließlich bei uns im Tempel aufgetaucht.
    Niemals hatte sie sich über Einzelheiten ausgelassen. Aber trotz der Qualen und Gefahren, die sie gewiss hatte überstehen müssen, war sie fröhlich geblieben. Außerdem war sie so jung, dass sie meine Tochter hätte sein können - wäre ich jemals in der Lage gewesen, ein Kind zu gebären.
    Tatsächlich schien sie töchterliche Gefühle für mich zu empfinden und leistete mir freiwillig kleine Dienste, die ich dankbar annahm. Auch jetzt glättete sie mir mit ihren geschickten Fingern die Haare und drückte mir einen Kranz aus blauen Lotosblüten auf den Kopf, wie sie ebenfalls einen trug.
    Außerdem hatte sie an mein Instrument gedacht, das ich in meiner Verwirrung vergessen hatte.
    »Wir müssen uns beeilen«, sagte sie beiläufig, obwohl ihr Blick verriet, dass ihr die Tränenspuren auf meinem
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