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Isis

Isis

Titel: Isis
Autoren: Brigitte Riebe
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Gesicht nicht entgangen waren. »Die anderen sind alle längst bei der Anlegestelle.«
    Ich erhob mich und folgte ihr.
    Die silberne Barke der Isis erreichte gerade den kleinen Quai im Südwesten der Insel. Tared, der Oberste Priester, stand frisch geschoren und mit einem gefältelten Schurz bekleidet ein Stück entfernt vor der Schar der anderen Gottesdiener.
    Einige der Musikantinnen schüttelten ihre Sistren. Maram, die sich niemals anstrengen musste, um den Takt zu halten, fiel mit ein. Andere schlugen Rahmentrommeln oder bliesen auf Rohrflöten. Darüber erhob sich die reine Mädchenstimme unserer jüngsten Priesterin:
    Leih mir Deine Worte der Kraft Dein Lied zu singen vor aller Welt.
    In den Tiefen der Ozeane weilst Du, Herrin der Meere, in den Höhen der Berge weilst Du, Gebieterin der Berge.
    Dein Leib umfasst uns mit liebenden Armen, in Dir, mit Dir und durch Dich leben wir .
    Eine stattliche schwarze Kuh, zwischen den Hörnern eine Mondscheibe aus poliertem Silber, wurde von Tared ans Ufer geführt. Freudenschreie erklangen. Überall wurden Fackeln entzündet. Isis, die ferne Göttin, war endlich nach Ihrem Zuhause zurückgekehrt!
    Mir jedoch stockte der Atem. Befand ich mich bereits im Land der Schatten? Hatte ich all die Jahre in einem Traum gelebt, der soeben jäh endete?
    Denn vom Tempel her näherte sich auf der Prozessionsstraße eine junge Frau, mit Knochen, die für den Rest des Körpers zu groß erschienen. Sie war hoch gewachsen, mit mageren Beinen, die eher zum Weglaufen taugten als zum Anlocken.
    Ein unverwechselbarer Gang, den ich nicht vergessen werde, solange ich atme: Schritte, ungleichmäßig, mal schnell, dann wieder langsamer, als drohe sie hinzufallen, was natürlich nicht geschah.
    Sie blieb stehen und schaute sich um, als wolle sie alles in sich aufnehmen. Dann fiel ihr Blick auf mich.
    Unaufhaltsam kam sie näher.
    Für einen Moment empfand ich Abneigung, ja geradezu Hass. Wer gab ihr das Recht, so auszusehen wie jenes Mädchen namens Isis, das wir alle geliebt hatten - Khay mit verzehrender Leidenschaft, Anu hingebungsvoll und ich voller Entzücken? Selbst wenn unsere Isis noch am Leben war, konnte sie kein Mädchen mehr sein. Seit jenen Tagen hatte der große Fluss viele Male die Ufer überspült. Aber wer war sie dann, diese rätselhafte Doppelgängerin, diese Wandlerin zwischen den Zeiten?
    Inzwischen war sie nah genug, dass ich Einzelheiten erkennen konnte: staubiges Haar, volle Lippen, leicht angespannt verzogen, eine schmalrückige Nase. Augen, nicht hell wie das große Grün jenes Mädchens, das uns alle in seinen Bann geschlagen hatte, sondern dunkel wie Schwarzdornbeeren.
    Furchtlos bohrten sie sich in meine, als wollten sie ihnen alle Geheimnisse entreißen. Und dann sah ich das Muttermal, exakt an der gleichen Stelle wie in meinem Gesicht.
    Eine schreckliche Gewissheit stieg in mir empor. Was, wenn unser Versuch, in das Schicksal einzugreifen, doch geglückt war?
    Inzwischen waren offenbar auch die anderen auf unseren wortlosen Dialog aufmerksam geworden. Die Sängerin verstummte, einige der Musikantinnen hatten die Instrumente bereits sinken lassen. Auf einmal klang dünn, ja fast schon jämmerlich, was eben noch als heiteres Loblied zum Himmel gestiegen war. Schließlich schwiegen alle. Und starrten uns neugierig an.
    Tared ließ das rote Seil sinken und sah mit gerunzelter Stirn zu mir herüber. Was, wie ich wusste, Konsequenzen haben konnte. Denn ich war im Tempel nur geduldet.
    »Ich suche Meret«, sagte die junge Frau. Was sahen ihre
    Augen? Konnten sie hinter den Spiegel schauen, wie ich es einst vermocht hatte?
    Ich versuchte, Ruhe zu bewahren. Die Gabe war ein göttliches Geschenk. Es gab keinerlei Anspruch auf sie, das hatte ich am eigenen Leib erfahren müssen. Oder täuschte ich mich auch darin, wie ich mich in so vielem getäuscht hatte?
    Ihr Ton wurde fordernd. »Bist du Meret?« Ich senkte meinen Kopf, was ihr offenbar als Antwort genügte. »Dann ist meine Reise zu Ende.«
    Hör auf!, flehte ich stumm. Bitte sprich nicht weiter, sonst stürzt du uns beide ins Unglück! Aber sie schien mich nicht zu verstehen. Und plötzlich traf es mich wie ein Schlag: Es gab kein Zurück — weder für sie noch für mich.
    »Was ist mit meinem Vater?«, sagte die junge Frau, und ich entdeckte in ihrem eben noch so forschen Blick einen alten Schmerz, der mich erst recht befangen machte. »Ich muss wissen, wer er war. Du bist meine letzte Hoffnung, Meret.«
    Sogar die
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