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Maigret und der Gehängte von Saint-Pholien

Maigret und der Gehängte von Saint-Pholien

Titel: Maigret und der Gehängte von Saint-Pholien
Autoren: Georges Simenon
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weitersprach, behielt Maigret die drei Männer im Auge, so daß ihm nicht die leiseste Reaktion entging.
    »In einem Monat wird es genau zehn Jahre her sein … In einem Monat tritt Verjährung ein …«
    Er ging hin zu der Stelle, wo der Revolver Joseph van Dammes lag, und hob ihn auf, dann bückte er sich nach der Waffe, die Jef kurz nach seinem Eintritt fortgeworfen hatte.
    Er hatte sich nicht geirrt. Lombard vermochte die Spannung nicht länger zu ertragen. Beide Hände an den Kopf gepreßt, stöhnte er:
    »Meine Kinder! Meine drei Kinder!«
    Und alle Scham vergessend kehrte er dem Kommissar sein tränenüberströmtes Gesicht zu und brüllte, außer sich vor Schmerz:
    »Sie sind schuld, Sie allein! Ihretwegen habe ich das Kleine noch nicht einmal angesehen, meine jüngste Tochter! Ich weiß nicht einmal, wie sie aussieht! … Begreifen Sie das überhaupt? …«

10
    Ein Weihnachtsabend
in der Rue du Pot-au-Noir
    Eine Regenböe schien über den Himmel gefahren zu sein, eine eilige, tiefhängende Wolke, denn mit einem Mal erlosch all das strahlende Sonnenlicht. Es war, als sei ein Schalter ausgeknipst worden, so grau und eintönig sah jetzt alles aus. Und jeder Gegenstand nahm einen bedrohlichen Aspekt an.
    Maigret begriff nun, warum den jungen Männern, die sich damals hier versammelt hatten, so an der gedämpften Beleuchtung einer vielfarbigen Laterne gelegen hatte, warum ihnen die geheimnisvollen Schatten so wichtig gewesen waren und sie das Bedürfnis verspürt hatten, die Luft mit Rauchwolken und Alkoholdünsten zu verschleiern.
    Er konnte sich auch das Erwachen Kleins am Morgen nach einer dieser deprimierenden Orgien vorstellen; inmitten leerer Flaschen und zerbrochener Gläser, umgeben von einem schalen Geruch und dem trostlosen Tageslicht, das, durch keinerlei Gardinen gedämpft, direkt in den Raum fiel.
    Jef Lombard schwieg bedrückt; dafür begann Maurice Belloir nun zu sprechen.
    Der Wechsel war so abrupt, als sei man in eine ganz andere Welt versetzt worden. Der Fotograveur hatte den Aufruhr der Gefühle mit seiner ganzen Person ausgedrückt, mit den verkrampften Gesten, dem Schluchzen und der sich überschlagenden Stimme, mit seinem Hin- und Herlaufen und dem Wechsel von Überschwang und Ruhe, den man in Form einer Fieberkurve hätte aufzeichnen können.
    Belloir dagegen hatte sich von Kopf bis Fuß dermaßen in der Gewalt, wußte Tonfall, Blick und Gebärden solcherart zu beherrschen, daß es schmerzhaft anzusehen war; man spürte, daß es ihn qualvolle Anstrengung kostete.
    Er hätte wohl nicht zu weinen vermocht, selbst wenn er es gewollt hätte; wäre nicht einmal fähig gewesen, sein Gesicht zu verziehen, so starr war ein jeder seiner Muskeln.
    »Erlauben Sie, daß ich fortfahre, Herr Kommissar? … Es wird bald dunkel werden, und hier gibt es keine Beleuchtung.«
    Es geschah nicht einmal absichtlich, daß er auf praktische Dinge zu sprechen kam. Es war kein Zeichen von Gefühlskälte, sondern vielmehr seine Art, sich hinter Äußerlichkeiten zu verstecken.
    »Ich glaube, ein jeder von uns war aufrichtig bei unseren Unterhaltungen, bei unseren Debatten, unseren Wachträumen, nur daß der Grad dieser Aufrichtigkeit eben verschieden war.
    Wie Jef schon gesagt hat, waren da einerseits die Reichen, die anschließend heimkehrten, zurückfanden in eine solide Welt: Van Damme, Willy Mortier und ich, und selbst Janin, dem es an nichts fehlte …
    Und innerhalb dieser Gruppe kam Willy Mortier noch ein besonderer Rang zu. Er war – und dies ist nur ein Beispiel – der einzige, der seine Freundinnen unter den gewerbsmäßigen Damen der Nachtklubs und Tänzerinnen kleiner Theater suchte und sie bezahlte …
    Ein praktisch veranlagter Junge, ganz wie sein Vater, der – ohne einen Sou in Lüttich angekommen – nicht davor zurückgescheut war, den Handel mit Eingeweiden anzufangen, und dabei reich geworden war.
    Willy bekam fünfhundert Francs Taschengeld im Monat. Das war ein Vermögen für uns. Die Universität betrat er nie, ließ sich die Texte der Vorlesungen von armen Kameraden abschreiben und bestand seine Prüfungen aufgrund von Listen und Bestechungen.
    Zu uns kam er ganz einfach aus Neugier, denn er teilte weder unseren Geschmack noch unsere Ideen.
    Sein Vater, sehen Sie, kaufte Malern ihre Bilder ab und verachtete sie dabei, so wie er Amtmänner, beziehungsweise Stadträte, irgendwelcher Vergünstigungen wegen kaufte und sie verachtete …
    Ebenso war es mit Willy. Auch er verachtete uns. Und
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