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Stigma

Stigma

Titel: Stigma
Autoren: Michael Hübner
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Prolog
    E s war ein Dienstag, der dreiundzwanzigste Juli, an dem Tom Kesslers Kindheit endete. Er war zu diesem Zeitpunkt dreizehn Jahre alt.
    Eigentlich hieß er Thomas, doch solange er zurückdenken konnte, nannten die Leute ihn Tom. Aus Bequemlichkeit, wie er vermutete, obwohl sein Großvater einmal behauptet hatte, diese Kurzform würde besser zu der Leichtfüßigkeit passen, mit der er der Welt entgegentrat. Vielleicht lag es auch daran, dass er für sein Alter schon ziemlich erwachsen wirkte. Seine Körpergröße, mit der er Gleichaltrige um gut einen Kopf überragte, und ein früh einsetzender Bartwuchs ließen ihn schon in diesem Alter wie einen jungen Mann aussehen. Zudem verlieh ihm sein dunkelbraunes Haar, das ihm stets ein wenig zerzaust in die Stirn hing, eine gewisse Verwegenheit, die seine Mitschülerinnen bereits zu dem einen oder anderen bewundernden Blick verleitet hatte.
    Bis zu jenem Tag, an dem Gewalt und Wahnsinn so unverhofft in sein Leben einschlugen, war Tom ein glücklicher Junge gewesen. Er lebte mit seinen Eltern und seiner zwei Jahre jüngeren Schwester Sandra in einer kleinen Hochhaussiedlung am Rand von Wiesbaden. Tom war ein guter Schüler und sehr beliebt. Neben seinen Freunden nahm seine Leidenschaft für Bücher den größten Teil seiner Freizeit in Anspruch, und bereits als Kind war seine Vorstellungskraft ausgereift genug, um erste Kurzgeschichten zu verfassen. Außerdem war er ein begeisterter Fußballspieler, liebte Schach und schwärmte für alte Hollywoodfilme.
    Es gab viele Dinge, die ihm wichtig waren. Doch nichts von alldem konnte ihn auf das vorbereiten, was an diesem Sommertag geschehen sollte, als zwei kräftige Männerhände ihn in diesen Keller zerrten, hinein in eine Welt, die er bis dahin nur aus Büchern kannte. Hände, die nach Zigaretten und feuchter Erde gerochen hatten, nach Verwesung und Tod. Hände, die so unvorstellbare Grausamkeiten verübt hatten. Werkzeuge des Bösen.
    Noch nie hatte er eine Leiche gesehen. Gelesen hatte er oft davon. Aber es waren nur Worte gewesen, erfundene Geschichten, die sich so schnell wieder verflüchtigten wie ein Alptraum, aus dem man erwachte und in dem man nichts Reales entdecken konnte. Nichts jedenfalls, was einen auf Dauer ängstigte oder verfolgte oder den Glauben an eine gute Welt zerstörte.
    Tom liebte Geschichten. Oft hatte er seinem Vater zugehört, wenn der abends beim Essen von seiner Arbeit als Polizist erzählte, von Verkehrsdelikten, Einbrüchen und Verhaftungen. Es faszinierte ihn, in eine Welt einzutauchen, die außerhalb der fiktiven Bücher lag. Denn es war der unwiderstehliche Reiz des Wirklichen, der ihn anzog und der sich in seinen Geschichten niederschlug. Aber diese Wirklichkeit war es auch, die ihn zum ersten Mal erkennen ließ, dass manche Ereignisse einen Menschen verändern konnten.
    Tom merkte sofort, dass etwas nicht stimmte, als sein Vater am Tag vor dem Ferienbeginn früher nach Hause kam. Frank Kessler saß stumm auf seinem Stuhl in der Küche und starrte die ganze Zeit über verloren vor sich hin, als suche er in seinem Inneren verzweifelt nach etwas, das ihn befreien und ihm seinen Glauben an das Gute in der Welt zurückgeben konnte. Erst gegen Abend war sein Vater bereit, darüber zu reden, was ihn bedrückte. Noch immer tat er sich sehr schwer damit, musste hin und wieder Pausen einlegen. Wenn es um den Tod eines Menschen ging, war es eben nicht leicht, die richtigen Worte zu finden. Doch Tom vermutete, dass es für seinen Vater wichtig war, darüber zu sprechen, genauso wie es für ihn wichtig war, seine Geschichten zu erzählen. Eine Art Ventil, mit dessen Hilfe er angestauten Druck ablassen konnte, indem er ihn mit anderen teilte. Also hörte Tom aufmerksam zu, als sein Vater von dem Unfall auf der Autobahn berichtete. Von den ineinander verkeilten Autos und den Schreien der Insassen. Davon, wie sein Kollege versucht hatte, die Unfallstelle zu sichern, und dabei von einem heranrasenden Auto erfasst und in zwei Stücke gerissen worden war. Und er sah die Tränen in den Augen seines Vaters, während er davon erzählte.
    An diesem Abend fiel das Essen aus, und die Familie ging früh zu Bett. Doch Tom lag noch lange wach und grübelte. Die Bilder in seinem Kopf ließen ihn nicht los. Nie zuvor hatte er seinen Vater weinen sehen. Diesen groß gewachsenen Mann, der allein durch seine Anwesenheit Autorität ausstrahlte. Und er begriff, dass nicht alles im Leben nach einem festen Raster verlief,
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