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Stigma

Stigma

Titel: Stigma
Autoren: Michael Hübner
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zusammenmanschte. »Na, Champion«, sagte er, während er ihm das dunkelblonde Haar strubbelte, das genauso störrisch war wie sein eigenes. »Wie war’s im Kindergarten?«
    »Wie immer«, antwortete sein Sohn mit vollem Mund.
    Das sollte wohl heißen: »Nicht besonders aufregend.«
    Sein Blick glitt wieder zu Karin hinüber. »Du sagst, ich bin letzte Nacht im Haus herumgelaufen? Daran kann ich mich gar nicht erinnern.«
    »Wirst du jetzt auch noch zum Schlafwandler? Vielleicht sollte ich dich nachts an die Leine legen.«
    »Na ja«, bemerkte er grinsend, »wahrscheinlich hab ich mir gedacht, wenn sie mir nicht zuhört, geh ich eben woandershin.«
    Sie lachte, so dass das kleine Muttermal kurz über ihrem rechten Mundwinkel auf und ab hüpfte. Doch gleich darauf wurde sie ernst. »Bedrückt dich irgendetwas?«
    Er schüttelte den Kopf. »Nein.« Bis auf die Tatsache, dass ich gelegentlich Todesängste ausstehe und keine Ahnung habe, weshalb. »Jedenfalls nichts, was mir bewusst wäre.« Seine Augen verengten sich und wurden starr. »Diese ganze Geschichte von damals … Es ist wie ausgelöscht. Meine Kindheit, meine Jugend … Ich kann mich kaum noch daran erinnern, einmal jung gewesen zu sein.«
    »Vielleicht solltest du mal mit Dr. Westphal darüber reden. Glaubst du, das könnte etwas mit deinen Panikanfällen zu tun haben?«
    »Möglich ist alles, wenn es um die menschliche Psyche geht. Das behauptet sie zumindest. Die Seele vergisst niemals, das ist einer von ihren Standardsätzen. Wenn ich nur wüsste, was diese Anfälle auslöst.«
    »Ihr werdet schon noch dahinterkommen. Sie ist eine gute Ärztin.«
    »Ich weiß«, stimmte er ihr zu. »Ich habe ja nicht ohne Grund über sie für mein erstes Buch recherchiert.«
    Schatten der Seele, rief er sich den Titel ins Gedächtnis. Möglicherweise hatte er sich einfach zu lange mit dieser Materie beschäftigt, und nun holten ihn seine eigenen Fantasien ein.
    »Vielleicht brauchst du nur mal Urlaub«, bemerkte Karin und begann den Auflauf zu verteilen. »Seit über vier Monaten schreibst du ununterbrochen an deinem neuen Buch. Du müsstest vielleicht nur mal abschalten und auf andere Gedanken kommen.«
    Karin schloss die Klappe des Backofens und war gerade im Begriff, sich zu ihnen an den Tisch zu setzen, als es an der Tür klingelte.
    »Wer kann denn das sein, um die Mittagszeit?«, knurrte Tom.
    »Ach, das ist bestimmt das Kleid, das ich mir bestellt habe. Du weißt schon, für Samstag.«
    Tom sah sie verständnislos an.
    »Samstag?«, wiederholte sie fragend. »Der zwanzigste Mai …« Entschieden fügte sie hinzu: »Mein Geburtstag!«
    Toms Augen weiteten sich. »Dein Geburtstag … natürlich!« Er spielte verlegen mit dem Besteck. Über seinen verzweifelten Bemühungen, ein paar brauchbare Sätze zu Papier zu bringen, hatte er tatsächlich die Feier zu ihrem sechsundzwanzigsten Geburtstag vergessen. Vielleicht hatte er dieses Ereignis auch schlicht verdrängt, denn er war kein großer Anhänger solcher Feierlichkeiten. Zu viele Menschen in einem Raum machten ihn nervös, zumal die meisten davon für ihn Fremde waren, zu denen er kaum einen Bezugspunkt hatte. Karin war Elternsprecherin der Kindergartengruppe und half, Feste, Wanderungen und Ausflüge zu organisieren. Außerdem saß sie im Vorstand des Arbeiterwohlfahrtsvereins, der Freizeitaktivitäten für Senioren ausrichtete. All das machte ihren Freundeskreis für Tom sehr unübersichtlich, da er selbst so gut wie nie das Haus verließ. Lediglich einer einzigen Person hatte er es zu verdanken, dass seine Angst vor fremden Menschen ihn nicht zum sozialen Eremiten verkümmern ließ.
    »Ich habe übrigens auch Fanta eingeladen«, rief Karin durch den Flur, während sie zur Haustür ging.
    Stefan Tauber, sein kritischster Leser und bester Freund, den vermutlich alle außer Tom mit dem Kürzel »Fanta« ansprachen, das sich aus den letzten drei Buchstaben seines Vor- und den beiden ersten seines Nachnamens zusammensetzte. Tom dagegen fand diesen Spitznamen reichlich unpassend für einen Mann, der alles andere als ein frenetischer Anhänger schaler Brauselimonade war. Würden die Leute ihn »Hefe« nennen, so hätte Tom sich eher damit anfreunden können. Allerdings lag Stefans modisches Erscheinungsbild weit jenseits jeden konventionellen Geschmacks und machte ihn, gepaart mit seiner äußerst direkten Art, in Toms Augen zum wohl ausgeflipptesten Typen auf diesem Planeten. Weshalb das Kürzel zumindest in
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