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Stigma

Stigma

Titel: Stigma
Autoren: Michael Hübner
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tatsächlich existierte, als ob sie direkt aus seinem Kopf zu ihm sprach. Das Beunruhigende daran war, dass diese Stimme nicht wie seine eigene klang, ihm aber dennoch vertraut vorkam. Und noch viel beunruhigender war es, gelegentlich auch andere Stimmen zu hören, die sich dazugesellten. Dr. Westphal, seine Therapeutin, bei der er seit Jahren in Behandlung war, hatte sie als »Suggestivstimmen« bezeichnet. Als »Boten seiner Seele«. Und das Schreiben sei so etwas wie eine Therapie, ein »Ventil« für unverarbeitete Erlebnisse.
    Übersetzt klang das für ihn so, als hätte er nicht alle Tassen im Schrank. Doch seine Ärztin meinte, dieses Verhalten sei eine ganz natürliche Reaktion auf die traumatischen Erlebnisse in seiner Kindheit, die zwar noch immer in seinem Unterbewusstsein verankert waren, auf die er jedoch keinen Zugriff mehr hatte. Auch die Gedächtnislücken und die gelegentlichen Panikattacken führte sie darauf zurück. Er müsse sich seiner Vergangenheit stellen und seine Dämonen besiegen, hatte sie gesagt, sie ein für alle Mal auslöschen.
    Sich der Vergangenheit stellen.
    Zum Teufel, das würde er ja gern tun, wenn er sich verdammt noch mal an sie erinnern könnte!
    »Tom!«, tönte es schwach von unten durch die geschlossene Tür seines Arbeitszimmers. »Das Essen wird kalt, kommst du bitte? Es gibt Gemüseauflauf.«
    »Komme sofort!«, rief er zurück und konnte gerade noch etwas durch den Flur hallen hören, das sich anhörte wie »Das sagst du immer!«. Normalerweise kam er selten in den Genuss, sein Mittagessen warm zu sich zu nehmen, zumindest wenn er in seine Arbeit vertieft war. Heute jedoch war er mehr als dankbar für diese Unterbrechung. Entweder hatte sein Unterbewusstsein die Schreibtherapie für beendet erklärt, oder sein »Ventil« war verstopft.
    Er knipste den Monitor aus und zog die Jalousie vor dem Fenster hoch, die ihn vor den blendenden Sonnenstrahlen schützte. Und er fragte sich, ob ein leerer Bildschirm es tatsächlich rechtfertigte, einen so herrlichen Frühlingstag auszusperren, der ihm einen nahezu ungehinderten Blick auf den angrenzenden See und die umliegenden Wälder ermöglichte, deren Grün zu dieser Jahreszeit besonders zu leuchten schien.
    Nur schwer löste er sich von diesem idyllischen Anblick und öffnete die Tür seines Arbeitszimmers. Unter dem gequälten Knarren der Dielen schritt er den Flur entlang, vorbei an Schlaf- und Kinderzimmer. Dabei beschloss er, nach dem Essen ein wenig im Garten zu arbeiten. Karin hatte am Morgen die bestellten Stauden in der Gärtnerei abgeholt. Wenn das Wetter es zuließ, und danach sah es aus, würde er sie am Nachmittag einpflanzen. Vielleicht brachte ihn das auf andere Gedanken, und hoffentlich auf einen rettenden Einfall.
    Er stieg die geschwungene Holztreppe ins Erdgeschoss hinab, wo es bereits köstlich nach Essen roch. Karins erstaunter Gesichtsausdruck entging ihm nicht, als er die geräumige Landhausküche betrat und sich an den Tisch setzte, an dem bereits ihr dreijähriger Sohn Mark saß und sich emsig die eigens für ihn angerichteten Pommes frites in den Mund stopfte.
    »So schnell?«, sagte sie erstaunt und stellte eine Schüssel mit Blattsalat in die Mitte des Tisches. »Lass mich raten: Du kommst nicht weiter, richtig?«
    »Es ist wie verhext«, bestätigte er niedergeschlagen. »Seit Wochen sitze ich da und starre diesen verdammten Bildschirm an. Und mir fällt einfach keine brauchbare Strategie ein, wie ich das ändern könnte. Ich fühle mich vollkommen ausgebrannt.«
    »Kein Wunder«, meinte Karin gelassen. »Du schläfst in letzter Zeit auch ziemlich unruhig. Manchmal redest du sogar im Schlaf.«
    »Ach ja, worüber denn?«
    »Über deine rassige achtzehnjährige Geliebte, die du jeden Samstag im Hotel triffst, und über deine Pläne, mich zu verlassen.«
    Entgeistert starrte Tom seine Frau an, doch sie lachte nur und küsste ihn sanft auf die Wange. Dabei streifte ihn eine Strähne ihres blonden Haares, das wunderbar nach Früchten duftete.
    »Keine Bange, ich konnte kein Wort von dem verstehen, was du in dein Kissen gemurmelt hast. Dazu war ich selbst viel zu erledigt.«
    »Na wenigstens kommt einer von uns beiden zur Ruhe.«
    »Ja, und wenn du damit aufhören würdest, mitten in der Nacht im Haus herumzugeistern, könnte ich vielleicht sogar durchschlafen«, gab sie schnippisch zurück.
    Tom wandte sich Mark zu, der mit einem Pommes einen Klumpen Mayonnaise mit Ketchup zu einer weiß-roten Soße
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