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Stigma

Stigma

Titel: Stigma
Autoren: Michael Hübner
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sondern dass Ereignisse eintreten konnten, die einen Menschen nachhaltig beeinflussten und die ihre Spuren hinterließen. Er verstand auch, dass es Zeit brauchte, um mit diesen Dingen fertigzuwerden. Mit Dingen wie Tod und Verzweiflung. Dingen, denen man hilflos ausgeliefert war.
    Damals war ihm nicht annähernd bewusst, wie sehr und wie nachhaltig ihn das schon bald selbst betreffen sollte.
    Es war bereits früher Nachmittag, als er an diesem dreiundzwanzigsten Juli über den Lamellenzaun auf das abgelegene Grundstück kletterte. Die drückende Hitze dieses Sommers stellte sich ihm entgegen wie eine physische Barriere, die ihn an seinem Vorhaben hindern wollte. Nur wenige Meter entfernt standen seine Freunde und feuerten ihn an, bewunderten seinen Mut und seine Entschlossenheit.
    Es sollte das letzte Mal sein, dass Tom sie sah.
    Er hörte ihre Rufe noch, als er die frische Grube mit ihrem schrecklichen Inhalt in dem Garten entdeckte und sich kurz darauf die Hände des Mannes auf seinen Mund und um seinen Nacken legten.
    Von da an schien die Zeit für ihn stillzustehen.
    Vierzig Minuten dauerte es, bis Toms Freunde die Suche nach ihm aufgaben und seine Eltern verständigten. Weitere zwanzig Minuten, bis sein Vater in Begleitung zweier Kollegen vergeblich an der Tür des Hauses klingelte. Eine knappe halbe Stunde brauchte man, um die Adresse mit zwei Anzeigen und einer Suchmeldung in Verbindung zu bringen, und weitere eineinhalb Stunden für den richterlichen Durchsuchungsbefehl. Erst nach etwas mehr als drei Stunden drang die Polizei in das Haus ein. Drei qualvoll lange Stunden, die Tom im Keller des Mannes verbrachte, der sich selbst als »der Wächter« bezeichnete. Drei Stunden in Gegenwart des vollkommenen und menschenverachtenden Wahnsinns.
    Was genau sich in dieser Zeit zugetragen hatte, konnte die Polizei nur anhand von Indizien rekonstruieren. Doch diese gaben nicht annähernd das wieder, was Tom tatsächlich durchlebt hatte. Mehrere Gegenstände wurden sichergestellt und den zahlreichen Verletzungen und Misshandlungsspuren an Toms Körper zugeordnet. Des Weiteren fand man vier Leichen auf dem Grundstück, Kinder im Alter zwischen vier und zehn Jahren, die zum Teil schon seit Monaten als vermisst gemeldet waren.
    Tom selbst war nicht in der Lage gewesen, sich zu den Vorfällen zu äußern. Das Letzte, was er bei halbwegs klarem Verstand wahrgenommen hatte, war das Gefühl von warmem Sommerregen auf seiner Haut gewesen und ein gurgelndes, abscheuliches Lachen. Danach hatte sein Bewusstsein abgeschaltet wie ein überlasteter Stromkreis, und er war in tiefe, schützende Finsternis versunken. Er wurde sofort in ein nahe gelegenes Krankenhaus gebracht und umfassend medizinisch versorgt. Doch es gab Verletzungen, die man nicht einfach schienen oder verbinden konnte. Wunden, die weit tiefer in ihn eingedrungen waren als nur in sein Fleisch. Und er würde Zeit brauchen, bis diese Wunden sich schließen konnten. Sehr viel Zeit.
    Es sollten Jahre vergehen, bis sie endlich zu heilen begannen.

TEIL EINS
Zeit der Dunkelheit
Dreizehn Jahre später
     
Montag, 15. Mai
     
     
     
     
     
    F ast völlig entmutigt saß er am Schreibtisch seines Arbeitszimmers und starrte den blinkenden Cursor auf dem ansonsten leeren Bildschirm an. Seit geschlagenen vier Stunden tat er das. Und er hatte in dieser Zeit nicht einen vernünftigen Satz getippt. Es gab Tage, an denen er das Schreiben hasste, an denen ihm diese Gabe wie ein Fluch erschien. Heute war so ein Tag. Es gelang ihm einfach nicht, sich in seine Geschichte zu vertiefen, sich in seine eigens geschaffenen Charaktere hineinzuversetzen. Eigentlich war dies ein natürlicher Vorgang beim Schreiben, der ihm bei seinem ersten Buch vor vier Jahren wie von selbst von der Hand gegangen war.
    Schatten der Seele hatte sich fünfzehn Monate in den Bestsellerlisten gehalten. Drei weitere Romane hatte er seitdem veröffentlicht, alle mit demselben Erfolg. Er konnte also getrost davon ausgehen, dass er sein Handwerk beherrschte. Und dennoch mehrten sich die Tage, an denen er eine völlige innere Leere verspürte. Ein tiefes schwarzes Loch, in dem er schwerelos zu schweben schien und das ihm jegliche Konzentration entzog. Dabei war ihm das Schreiben nie schwergefallen. Es war vielmehr ein eigenständiger Prozess, der ohne sein Zutun ablief. Beinahe so, als wäre da eine innere Stimme, die ihm diktierte, was er schreiben sollte. Und manchmal kam es ihm so vor, als ob diese Stimme
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