Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Augen der Mrs. Blynn

Die Augen der Mrs. Blynn

Titel: Die Augen der Mrs. Blynn
Autoren: Patricia Highsmith
Vom Netzwerk:
geistesabwesend, in Gedanken schön bei dem Imbiß, den sie zum Halb-sechs-Uhr-Tee im Gegensatz zu dem eine Stunde früher servieren würde. Ein Halbsechs-Uhr-Tee brauchte nicht so reichhaltig zu sein, da Mrs.
    Blynn sich um die Zeit bereits anderswo gestärkt haben würde. »Kann ich noch was für Sie tun, Mrs. Palmer?«
    fragte sie, und ihre liebevolle Stimme klang ehrlich besorgt.
    »Nein danke, Elsie, ich fühle mich soweit ganz wohl.«
    Mrs. Palmer seufzte, sobald Elsie draußen war. Elsie war willig, wenn auch etwas beschränkt. Mrs. Palmer konnte sich nicht mit ihr unterhalten; nicht, daß sie etwa vertraulich mit ihr hätte werden wollen, aber es wäre doch ein schönes Gefühl gewesen zu wissen, daß sie mit jemandem im Haus plaudern könnte, falls ihr danach war.
    8
    Mrs. Palmer hatte keine richtigen Freunde in der Stadt, denn sie war erst seit einem Monat hier. Sie war unterwegs nach Schottland gewesen, als sie, von einem neuerlichen Schwächeanfall heimgesucht, auf einem Bahnsteig in Ipswich zusammengebrochen war. An die lange Reise nach Schottland per Bahn oder selbst mit dem Flugzeug war danach nicht mehr zu denken gewesen, und so hatte Mrs.
    Palmer auf Anraten eines fremden Arztes hin ein Auto gemietet und sich an die Ostküste chauffieren lassen, in einen Ort namens Eamington, der sich durch sein belebendes Reizklima empfahl und wo der Doktor von einer Krankenschwester wußte, die Hausbesuche machte. Der Arzt hatte offenbar geglaubt, ein paar Wochen Ruhe und Erho-lung würden sie wieder auf die Beine bringen, doch Mrs.
    Palmers dunkle Vorahnung sprach von Anfang an dagegen.
    Zwar hatte sich ihr Befinden während der ersten Tage in dem beschaulichen Städtchen gebessert; sie hatte das Cottage Sea Maiden gefunden und gleich gemietet; allein, der Aufschwung währte nur kurz. Im Sea Maiden war sie erneut zusammengebrochen, und Mrs. Palmer hatte das Gefühl, daß Elsie und auch ein paar andere, deren Bekanntschaft sie gemacht hatte (Mrs. Frowley, die Maklerin, zum Beispiel), ihr ihre faiblesse verübelten. Nicht nur, weil sie eine Fremde war, die ihnen zur Last fiel und Fürsorge beanspruchte, sondern auch, weil ihr Rückfall den Glauben an die heilkräftige Wirkung des Eamingtoner Klimas erschütterte – ein Klima, das gegenwärtig von einem steifen Nordostwind beherrscht wurde, der fast Tag und Nacht in Orkanstärke tobte, einem die Knöpfe vom Mantel zu reißen drohte und die Fenster der Häuser an der 9
    Strandpromenade hinter einem klebrig-trüben Schleier aus salziger Gischt erblinden ließ. Mrs. Palmer bedauerte selbst, daß sie anderen zur Last fallen mußte, aber sie konnte die Leute doch immerhin dafür entschädigen. Sie hatte ein ziemlich heruntergekommenes Cottage gemietet, das andernfalls wohl den ganzen Winter leer gestanden hätte, denn es war schon Anfang Februar; Elsie verdiente bei ihr etwas mehr als den Eamingtoner Durchschnittslohn; sie zahlte Mrs. Blynn eine Guinée für eine halbstündige Visite (und den Großteil dieser halben Stunde beanspruchte ihr Tee); und bald würden auch der Bestattungsunter-nehmer, der Küster und vielleicht noch der Blumenhändler an ihr verdienen. Außerdem hatte sie die Miete bis einschließlich März im voraus entrichtet.
    Als der Sturm einen Augenblick aussetzte und eilige Schritte von der Straße heraufklangen, richtete Mrs. Palmer sich im Bett auf. Mrs. Blynn war im Anmarsch. Über Mrs.
    Palmers fast durchsichtige Stirn huschte ein banger Schatten, dem sie freilich in vorauseilender Höflichkeit rasch ein mattes Lächeln folgen ließ. Sie nahm den lang-stieligen Handspiegel vom Nachttisch. Ihr fahler Teint hatte aufgehört, sie zu erschrecken oder zu beschämen.
    Alter und Tod waren nun einmal kein schöner Anblick, damit mußte man sich abfinden. Trotzdem hatte sie immer noch das Bedürfnis, der Welt einen halbwegs passablen Anblick zu bieten. Also strich sie sich das Haar aus der Stirn, befeuchtete die Lippen, überprüfte ihr Lächeln, zupfte die Schulterpartie ihres Nachthemds zurecht und zog die rosa Strickjacke über der Brust zusammen. Ihre blauen Augen wirkten in dem blassen Gesicht viel blauer 10
    als früher. Immerhin etwas Erfreuliches.
    Elsie klopfte und öffnete im selben Moment die Tür.
    »Mrs. Blynn, Madam.«
    »Guten Tag, Mrs. Palmer«, sagte Mrs. Blynn und kam die beiden Stufen von der Schwelle ins Zimmer herunter.
    Sie war eine stämmige Frau um die Fünfundvierzig, dunkelblond, mittelgroß und erschien wie gewohnt in ihrem
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher