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Das Imperium der Woelfe

Das Imperium der Woelfe

Titel: Das Imperium der Woelfe
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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Kapitel 1
     
    Anna Heymes fühlte sich zunehmend unwohl. Die Untersuchung galt als gänzlich ungefährlich, und dennoch beunruhigte sie die Vorstellung zutiefst, dass ein fremder Mensch in diesem Moment ihre Gedanken lesen konnte.
    »Blau.«
    Sie lag auf einem Untersuchungstisch aus Edelstahl, in der Mitte eines schwach ausgeleuchteten Raumes, und ihr Kopf steckte in der Öffnung eines weißen zylinderförmigen Geräts. In dessen Inneren, direkt über ihrem Gesicht, war ein Spiegel angebracht, auf dem winzige Quadrate aufleuchteten. Anna brauchte nur laut und deutlich die Farben zu nennen, die sie sah.
    »Gelb.«
    Eine Infusion tröpfelte in ihren linken Arm, ein Radionuklid, wie Dr. Ackermann kurz und bündig erläutert hatte, mit dem man feststellen könne, wie die verschiedenen Hirnzonen durchblutet werden.
    Weitere Farben zogen vorbei - Grün, Orange, Rosa -, bis sich der Spiegel verdunkelte. Anna blieb reglos liegen, die Arme dicht an den Körper gepresst, als wäre sie in einen Sarg gezwängt. Auf der linken Seite, nur wenige Meter entfernt, sah sie das diffuse, verschwommene Licht des Glasverschlags, in dem sich Eric Ackermann und Laurent, ihr Mann, aufhielten. Sie stellte sich vor, wie die beiden Männer vor den Bildschirmen standen, um die Bewegung ihrer Neuronen zu verfolgen. Sie drangen in ihre Intimsphäre ein, Anna fühlte sich beobachtet, ausgebeutet, verletzt.
    Ackermanns Stimme ertönte aus dem direkt an ihrer Ohrmuschel befestigten Kopfhörer: »Sehr schön, Anna. Jetzt werden sich die Quadrate bewegen. Du musst nur ihre Bewegungsrichtung mit einem Wort beschreiben: rechts, links, oben, unten... «
    Sogleich begannen die geometrischen Figuren sich zu regen, sie bildeten ein buntes, fließendes, leicht schwebendes Mosaik, ein Schwarm winziger Fische.
    »Rechts.«
    Die Quadrate flatterten auf den oberen Rand des Bildes zu.
    »Oben.«
    Die Übung dauerte ein paar Minuten, und Anna sprach langsam, eintönig. Sie spürte, wie ihr Körper immer starrer wurde, fühlte sich wie betäubt von der Wärme, die der Spiegel abstrahlte. Bald würde sie in Schlaf fallen.
    »Perfekt«, sagte Ackermann. »Ich spiele dir jetzt mehrmals hintereinander eine Geschichte vor, und du hörst dir alle Versionen aufmerksam an.«
    »Und was soll ich sagen?«
    »Kein Wort. Du brauchst nur zuzuhören.«
    Nach ein paar Sekunden ertönte eine Frauenstimme, sie redete in einer fremden Sprache, asiatische, womöglich orientalische Klänge drangen an Annas Ohr. Nach kurzem Schweigen setzte die Geschichte erneut ein, diesmal auf Französisch, allerdings schien die Syntax fehlerhaft: falsche Artikel, Verben ertönten überraschenderweise im Infinitiv, und die Aussprache stimmte nicht immer...
    Während Anna versuchte, der seltsam verstümmelten Sprache zu folgen, begann eine weitere Version der Geschichte, in welcher sich absurde Worte in die Sätze einschlichen... Was hatte das zu bedeuten? Dann drang ein Schweigen an ihr Trommelfell, und sie fühlte sich noch tiefer in die Dunkelheit des Zylinders hineingestoßen.
    Nach einer Weile begann der Arzt erneut: »Nächster Test. Bei jedem Ländernamen nennst du die passende Hauptstadt.«
    Noch bevor Anna ihr Einverständnis signalisieren konnte, vernahm sie den ersten Namen: »Schweden.«
    Ohne nachzudenken, sagte sie: »Stockholm.«
    »Venezuela.«
    »Caracas.«
    »Neuseeland.«
    »Auckland, nein, Wellington.«
    »Senegal.«
    »Dakar.«
    Die Hauptstädte kamen ihr spontan in den Sinn, und wenn es auch reflexartige Antworten waren, so bewiesen diese immerhin, dass sie ihr Gedächtnis nicht ganz verloren hatte. Was sahen Ackermann und Laurent jetzt auf den Bildschirmen? Welche Zonen ihres Gehirns waren gerade besonders aktiv?
    »Jetzt kommt der letzte Test«, kündigte der Neurologe an. »Ich zeige dir verschiedene Gesichter, und du sagst so schnell wie möglich, wen du erkennst.«
    Irgendwo hatte sie gelesen, dass ein einfaches Zeichen - ein Wort, eine Geste, ein optisches Detail - Angstzustände hervorrufen kann; Psychiater nennen dies den Auslöser. Auslöser: Das war genau der richtige Ausdruck, und in ihrem Fall genügte allein das Wort Gesicht, um diese Übelkeit auszulösen. Sie glaubte dann jedes Mal zu ersticken, hatte ein Druckgefühl im Bauch, ihre Glieder wurden steif- und dieser brennende Kloß im Hals...
    Das Bild einer Frau in Schwarz-Weiß tauchte auf dem Spiegel auf. Blonde Locken, Schmollmund, Schönheitsfleck über dem Mund, ganz einfach: »Marilyn Monroe.«
    Auf das Foto
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