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Die Augen der Mrs. Blynn

Die Augen der Mrs. Blynn

Titel: Die Augen der Mrs. Blynn
Autoren: Patricia Highsmith
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unförmigen schwarzen Kostüm mit einer rosenroten Blütenagraffe am linken Revers. Sie benutzte blaßrosa Lippenstift und trug Schuhe mit ziemlich hohen Absätzen. Sie war die Witwe eines Seemanns, wie viele Frauen in Eamington, und hatte mit vierzig den Beruf der Kranken-pflegerin ergriffen. In der Stadt zollte man ihr höchste Achtung als einer tatkräftigen Frau, die der Gemeinde nützliche Dienste leistete. »Und wie geht es Ihnen heute?«
    »Guten Tag. Man könnte wohl sagen, den Umständen entsprechend«, antwortete Mrs. Palmer, um einen heiteren Ton bemüht. Dabei nestelte sie schon an ihrer Zudecke, bereit, sie für die tägliche Spritze zurückzuschlagen.
    Doch Mrs. Blynn war mitten im Zimmer stehengeblieben, hatte die Hände in die Hüften gestemmt und ließ den Blick mit einem entrückten Lächeln abwechselnd über die Wände und aus dem Fenster schweifen. Mrs. Blynn hatte als Frischvermählte ein halbes Jahr lang mit ihrem Mann hier im Sea Maiden gewohnt, und es verging kein Tag, an dem sie das nicht irgendwie zur Sprache brachte. Mr.
    Blynn war Kapitän auf einem Handelsschoner gewesen und vor zehn Jahren bei einer Havarie mit einem schwedi-schen Dampfer, nur fünfzig Seemeilen vor Eamington, mit seinem Schiff untergegangen. Mrs. Blynn hatte nicht wie-11
    der geheiratet. Elsie wußte zu berichten, daß in ihrem Haus überall Fotos von dem Kapitän in seiner Uniform und von seinem Schiff stünden.
    »Ach ja, ein wunderschönes Häuschen«, sagte Mrs.
    Blynn, »auch wenn's ein bißchen reinzieht.« Und als sie sich Mrs. Palmer zuwandte, leuchteten ihre Augen, als wolle sie sagen: »Also dann, noch ein paar von meinen Spritzen, und bald sind Sie wieder wie neu, was?«
    Doch kaum, daß Mrs. Blynn in ihrer schwarzen Tasche nach der Spritze kramte und nach dem Fläschchen mit der klaren Flüssigkeit, die wieder nichts bewirken würde, wechselte ihr Gesichtsausdruck. Das Lächeln schwand von ihren Lippen, ihre Mundwinkel erschlafften, und die Falten rechts und links der Nasenwurzel vertieften sich. Und als sie die Nadel in Mrs. Palmers abgezehrten Körper stieß, waren ihre graugrünen Glupschaugen so glasig, als ob sie nichts sähe und auch nichts zu sehen brauchte: Spritzen zu setzen war ihr Beruf, und damit kannte sie sich aus. Mrs.
    Palmer war für sie ein Neutrum, das eine Guinée pro Visite zahlte. Das Neutrum lag im Sterben. Und Mrs. Blynns stoischer Gleichmut schien nicht einmal durch die Frage zu erschüttern, wann die Guineen ausbleiben würden, ob in drei Tagen oder erst in acht.
    Mrs. Palmer bedeutete Geld an sich nichts, aber angesichts der Tatsache, daß sie schon bald aus dieser Welt würde scheiden müssen, wäre es ihr doch lieb gewesen, wenn Mrs. Blynn eine so menschliche Regung gezeigt hätte wie den Wunsch, die Guineenquelle möglichst lange zu erhalten. Doch Mrs. Blynns Augen blieben selbst dann glasig, wenn sie zur Tür blickte, um zu sehen, ob Elsie 12
    endlich mit ihrem Tee kam. Die Dielen draußen im Flur knarrten hin und wieder, je nachdem, ob es zu warm wurde oder zu kalt, aber auch dann, wenn jemand an der Tür vorbeiging.
    Heute war die Injektion schmerzhaft, doch Mrs. Palmer zuckte nicht mit der Wimper. Im Gegenteil, sie lächelte sogar über diese kleine Unannehmlichkeit. »Heute ist mal ein bißchen die Sonne rausgekommen, nicht wahr?« sagte Mrs.
    Palmer
    »Ach ja?« Mit einem Ruck zog Mrs. Blynn die Nadel heraus.
    »Ja, vormittags, so gegen elf. Ich hab's zufällig gesehen.« Und sie deutete mit matter Hand auf das Fenster hinter sich.
    »Na, vertragen könnten wir's«, sagte Mrs. Blynn und verstaute ihre Instrumente wieder in der schwarzen Tasche.
    »Und so ein schönes Feuer auch, weiß Gott.« Sie hatte ihre Tasche zugeklappt, war an den Kamin getreten und rieb sich die Hände über den Flammen.
    Was aussah wie ein aufgerollter, langfloriger Kaminvor-leger, war Princy, der sich der Länge nach vor dem Feuer ausgestreckt hatte.
    Mrs. Palmer hätte Mrs. Blynn gern etwas Nettes über deren Mann gesagt, über ihr gemeinsames Leben hier im Haus, über die Stadt, irgend etwas. Aber alles, was ihr einfiel, war, wie einsam Mrs. Blynn seit dem Tod ihres Mannes sein mußte. Kinder hatte sie keine gehabt, und Mrs.
    Blynn, die ihren Mann laut Elsie vergöttert hatte, war stolz darauf, kein zweites Mal geheiratet zu haben. »Haben 13
    Sie um diese Jahreszeit viele Patienten?« fragte Mrs.
    Palmer.
    »O ja. Wie gewöhnlich«, sagte Mrs. Blynn, die immer noch ins Feuer blickte und sich
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