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Gone 4: Rache

Gone 4: Rache

Titel: Gone 4: Rache
Autoren: Michael Grant
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Pete
    Er stand regungslos auf der Kante einer Glasscheibe. Barfuß. Einen Fuß vor dem anderen. Perfekt ausbalanciert. Die Arme an den Seiten. Das war jetzt das Spiel.
    Die Glasscheibe reichte endlos weit in die Tiefe. Wie ein schimmernder, durchsichtiger Vorhang.
    Die Kante war schmal, so schmal, dass er sich schneiden würde, sollte er ausrutschen oder einen unbedachten Schritt machen. Sie war nur ein Streifen, Teil eines Regenbogens, der in hellen Tönen die Farben Rot, Grün und Gelb spiegelte.
    Auf der einen Seite der Scheibe: Dunkelheit. Auf der anderen: grelle, verstörende Farben.
    Rechts unter ihm, außerhalb seiner Reichweite, konnte er Dinge sehen. Da waren seine Mom und sein Dad und seine Schwester. Scharfe Kanten und so schrille Geräusche, dass er sich am liebsten die Ohren zugehalten hätte. Beim Anblick dieser Dinge, dieser Menschen, der wackeligen, morschen Häuser, der spitzen Ecken der Möbel, der Klauenhände und Hakennasen, der ihn anstarrenden Augen und schreienden Münder hätte er nur allzu gerne die Augen geschlossen.
    Das hätte aber nichts genutzt. Denn selbst dann würde er sie noch sehen und hören. Ihre wild pulsierenden Farben verstand er nicht. Und manchmal waren ihre Worte keine Worte, sondern hell leuchtende, papageienfarbene Speere, die sie aus ihren Mündern abschossen.
    Mutter, Vater, Schwester, Lehrer, andere. In letzter Zeit nur noch die Schwester und andere, die mit ihm sprachen. Ein paar Worte verstand er: Pete, Petey, der kleine Pete. Diese Worte kannte er. Es gab auch weiche Worte, weich wie kleine Kätzchen oder Kissen. Sie schwebten aus dem Mund seiner Schwester. Und dann war er eine Zeit lang ruhig. Bis zum nächsten gellenden, schrillen Geräusch, bis zum nächsten Angriff der stechenden Farben.
    Links von ihm, tief, tief unten, noch unterhalb der endlosen Glasscheibe, befand sich eine ganz andere Welt. Stille, gespenstische Dinge trieben lautlos in der Luft. Graue Schatten. Keine scharfen Kanten, keine lauten Geräusche. Keine entsetzlichen Farben, die ihn zum Schreien brachten. Dort war es dunkel und so unbeschreiblich still.
    Da unten lag eine sanft schimmernde Scheibe. Sie sah aus wie eine hellgrüne Sonne. Manchmal streckte sie sich nach ihm aus. Mit einer Ranke. Einem Dunst. Berührte ihn, während er dastand, ausbalanciert, einen Fuß vor dem anderen, die Arme an den Seiten.
    Friede, Stille, nichts – das waren die Gedanken, die sie ihm zuflüsterte.
    Manchmal spielte sie ein Spiel.
    Pete liebte Spiele. Nur die linke Seite spielte mit ihm, wie es ihm gefiel. Spiele mussten immer gleich sein, durften sich nicht verändern. Doch das letzte Spiel, das Pete mit der Dunkelheit gespielt hatte, war grell geworden, hatte ihn geblendet. Auf einmal hatte sie Petes Gehirn mit Pfeilen attackiert. Das Spiel kaputt gemacht.
    Die Glasscheibe war zerbrochen. Aber jetzt war sie wieder ganz und er balancierte darauf.
    So als täte es ihr leid, sagte die grüne Sonne im sanften Flüsterton: Komm herunter, komm spielen.
    Auf der anderen Seite – der aufgeregten, klirrenden, schonungslosen Seite – schubste ihn seine Schwester mit Händen wie Hämmer. Ihr Gesicht eine gedehnte Maske unter gelbem Haar, ihr Mund rosa und glitzernd weiß.
    »Dreh dich um. Ich muss das Laken abziehen. Es ist klatschnass.«
    Pete verstand einen Teil der Worte. Er spürte ihre Härte. Da war aber noch etwas anderes, was ihn davon ablenkte. Etwas Fremdes, Unbekanntes, Unheimliches. Ein dröhnender musikalischer Klang, ein Bogen, der über Saiten strich und ihn die linke und die rechte Seite der Glasscheibe, ja sogar ihre Kante vergessen ließ. Es kam von dem Ort, den er nie ansah: aus seinem Inneren.
    Pete sah sich nun von oben, als schwebte er außerhalb seines Körpers. Er blickte verwundert auf sich hinab. Die neue Stimme, dieser beharrliche Klang, kam von diesem Körper, fordernder und zwingender als das sanfte Flüstern der Dunkelheit oder die schrillen Worte seiner Schwester. Er verlangte Petes gesamte Aufmerksamkeit, lenkte ihn von seinem Spiel auf der Glasscheibe ab, davon, das Gleichgewicht zu halten.
    »Du schwitzt«, sagte seine Schwester. »Du glühst richtig. Ich werde jetzt Fieber messen.«

Eins
    72 Stunden, 7 Minuten
    Sam Temple war betrunken.
    Zum ersten Mal in seinem Leben. Früher hatte er seiner Mutter hin und wieder einen Schluck Wein stibitzt. Vor zwei Jahren, mit dreizehn, hatte er eine halbe Dose Bier getrunken. Um es auszuprobieren. Es hatte ihm nicht geschmeckt, viel zu
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