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Das Känguru-Manifest

Das Känguru-Manifest

Titel: Das Känguru-Manifest
Autoren: Marc-Uwe Kling
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Ding Dong. Ich klingele. Die Tür wird geöffnet, und ich stehe einem Känguru gegenüber. Das Känguru blinzelt, kuckt hinter sich, schaut die Treppe runter, dann die Treppe rauf. Kuckt geradeaus. Ich stehe immer noch draußen.
    »Hab meinen Schlüssel vergessen«, sage ich.
    Das Känguru gähnt.
    »Hello again«, sagt es, macht ein Peace-Zeichen und schlurft zurück ins Wohnzimmer. Erschöpft schleife ich meine Gitarre und meinen Koffer in unsere Wohnung. Das Känguru liegt schon wieder in seiner Hängematte im Wohnzimmer und summt vor sich hin. Ich lasse mich auf die Couch fallen. Der Boxsack hängt noch an gewohnter Stelle, beim Nevermind-Poster fehlt immer noch der obere rechte Reißnagel, und ich glaube, selbst der leere Pizzakarton liegt noch an derselben Stelle wie vor meiner Abreise.
    »Frag mich, wie’s auf Tour war«, sage ich.
    »Wie war’s auf Tour?«, fragt das Känguru.
    »Nun ja«, sage ich. »Ich war ja mit der Band unterwegs, und gestern sind wir in Ober-Nieder-Gummersberg aufgetreten, und ich habe unter anderem so ein altes Straßenkampflied gesungen, ›Wer hat uns verraten? Sozialdemokraten!‹, und erst im Nachhinein hab ich festgestellt, dass fast das komplette Publikum aus der SPD-Ortsgruppe bestand.«
    »Und?«
    »Die wollten partout nicht mitsingen«, sage ich und kicke eine leere Schnapspralinenpackung in Richtung Pizzakarton. »Dabei habe ich die mehrfach aufgefordert.«
    »Hättste lieber mal vorneweg ein bisschen Marktforschung gemacht«, sagt das Känguru. »›Wer hat uns verraten? Christdemokraten!‹ reimt sich doch genauso gut.«
    »Ja«, sage ich. »Ich muss mich einfach noch mehr als Dienstleister verstehen.«
    »Kann dir doch egal sein, was du singst«, sagt das Känguru. »Die Leute haben bezahlt. Also sing gefälligst, was sie hören wollen.«
    »Weißt du«, sage ich, »das Komischste war … Es hat denen überhaupt nicht gefallen, was wir auf der Bühne gemacht haben. Aber die haben die ganze Zeit brav geklatscht.«
    »Das sind die so gewohnt von ihren Parteitagen«, sagt das Känguru.
    Ich schalte mit der Fernbedienung Fernseher und Videorecorder an. Bud Spencer jagt Terence Hill über den Strand und bewirft ihn mit Kokosnüssen.
    »Und was hast du so gemacht?«, frage ich.
    »Ich habe gerade in der Hängematte Paul Lafargues Das Recht auf Faulheit gelesen und bin dabei eingedöst«, sagt das Känguru.
    »Du hast den ganzen Tag verpennt?«, frage ich, hänge die Füße über die Rückenlehne der Couch und lasse meinen Kopf nach unten baumeln. Seit das Känguru den Fernseher repariert hat, steht das Bild nämlich auf dem Kopf.
    »Ich habe nicht geschlafen«, sagt das Känguru. »Ich habe mich nur geschont. Außerdem habe ich den ganzen Morgen damit verbracht, eine Not-to-do-Liste zu erstellen.«
    »Bitte was?«
    »Eine Liste mit Sachen, die ich als schlecht für mich, für andere oder für die Umwelt einstufe. Heute Abend werde ich alles markieren, was ich nicht gemacht habe. Und das wird mir ein gutes Gefühl geben.«
    »Und so lange bleibst du in der Hängematte liegen?«, frage ich.
    »Ist nicht viel anderes übriggeblieben«.
    Terence Hill ist schneller als Bud Spencer. Mir wird schwindelig. Ich habe zu viel Blut im Kopf.
    »Statt immer mit dem Kopf nach unten rumzuhängen, könnten wir auch einfach den Fernseher umdrehen«, sage ich.
    »Mach doch«, sagt das Känguru.
    »Später«.
    Mein Blick fällt auf das schiefe Regalbrett, von dem früher immer die Bücher runtergerutscht sind. Jetzt rutschen die Bücher nicht mehr. Sie stecken in Stoppersocken.
    »Mir ist schlecht«, sage ich. »Kannst du mich bitte umdrehen?«
    Das Känguru kommt und stellt mich vom Kopf auf die Füße.
    Ich schalte den Videorecorder aus.
    »Ich habe heute früh im Zug ein neues Gedicht gemacht!«, sage ich.
    »Nummer 5«, sagt das Känguru.
    »Was?«
    »Nummer 5 auf meiner Not-to-do-Liste«, sagt das Känguru. »Gedichte schreiben.«
    »Du weißt, dass ich mich von sarkastischen Bemerkungen nicht aufhalten lasse.«
    »Ja«, sagt das Känguru. »Ich habe eine ziemlich eindeutige Langzeitstudie darüber gemacht.«
    »Aufgepasst«, sage ich.
    »Es sagt viel über die Welt aus, mein Kind,
    sagte der Vater zum Knaben,
    dass die Dummen glücklich sind
    und die Schlauen Depressionen haben.«
    »Hast du Depressionen?«, fragt das Känguru.
    »Nee«, sage ich. »Du?«
    »Nee.«
    Plötzlich klingelt es von irgendwoher.
    »Wie dem auch sei«, sagt das Känguru, zieht einen Wecker aus seinem Beutel und
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