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Das Känguru-Manifest

Das Känguru-Manifest

Titel: Das Känguru-Manifest
Autoren: Marc-Uwe Kling
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runterspucken?«, fragt das Känguru und spuckt noch mal in den Blumenkasten. Es friemelt sich etwas Tabak aus dem Mund. »Der Filter ist nicht so gut geworden.«
    Ich blicke auf die unzähligen toten Pflanzen in den Kästen.
    »Was für ein Massaker«, sage ich kopfschüttelnd.
    »Willst du unterstellen, die Pflanzen sind kaputtgegangen, weil ich da ab und zu reingespuckt habe?«
    »Entweder das, oder du hast ihnen zu viele Wortwitze erzählt.«
    »Au contraire!«, ruft das Känguru. »Ich glaube, Gerlinde gesagt, dass die Pflanzen vertrocknet sind, weil ich nicht oft genug reingespuckt habe.«
    »Das ist wahrscheinlich hochgiftig, was du da ausspuckst.«
    »Quatsch. Ich kann gut mit Pflanzen«, sagt das Känguru. »Ich habe den grünen Gaumen.«
    »Boah. Wie widerlich.«
    Das Känguru spuckt noch mal auf die toten Küchenkräuter.
    »Und ich hatte mir letzten Sommer Sorgen gemacht«, sage ich, »weil ich das Gefühl hatte, von der Petersilie high zu werden …«
    »Fressflash!«, ruft das Känguru und zieht einen halbgegessenen Schokoweihnachtsmann aus seinem Beutel.
    »Früher haben wir immer die Verpackungen von den Schokoweihnachtsmännern sehr sorgfältig abgezogen und geplättet, und dann haben wir auf dem Schulhof miteinander getauscht«, sagt das Känguru. »So war das damals im Osten.«
    »Als ich zur Grundschule ging, da hatten alle so tolle Stickeralben«, sage ich. »Mit bunten, glitzernden, sogar mit phosphoreszierenden Aufklebern. Nur ich war der einzige Junge auf der ganzen Welt, dem seine Eltern kein Stickeralbum gekauft hatten. Ich weiß nicht mal mehr, warum. Wahrscheinlich fanden sie es zu teuer oder zu blöd, oder sie konnten mich nicht leiden. Jedenfalls habe ich mir dann selber ein Stickeralbum gebastelt, indem ich die leeren Folien zusammentackerte, die übrigblieben, wenn mein Papa seine Adressaufkleber verklebt hatte. Darin habe ich dann ›Schreib mal wieder‹-Aufkleber von der Bundespost – die waren weiß, oval und mit einer fetten Taube – und diese furchtbar hässlichen ›Ein Herz für Kinder‹-Aufkleber gesammelt.«
    »Warum hast du nicht gleich die Adressaufkleber von deinem Vater gesammelt?«, fragt das Känguru.
    »Habe ich«, sage ich. »Davon hatte ich ’ne ganze Menge im Album.«
    »Niedlich.«
    »Aber die anderen Kinder wollten nie Aufkleber mit mir tauschen.«
    »Es muss hart gewesen sein, im Kapitalismus aufzuwachsen«, sagt das Känguru. »Ihr durftet ja nicht mal ohne Gängeleien ins schöne Mecklenburg fahren, um Urlaub zu machen.«
    »Nee«, sage ich. »Immer nur in die Südsee. Jedes Jahr in die Südsee.«
    »Das muss genervt haben.«
    »Das hat genervt«, sage ich. »Aber es war auch nicht alles schlecht im Westen …«
    »Zum Beispiel hattet ihr Farben«, sagt das Känguru.
    »Ja, und wir hatten in Einkaufszentren riesige Container mit unfassbar vielen kleinen, giftigen Plastikbällen, wo man seine Kinder loswerden konnte. Was ich damals schon an Weichmachern gelutscht habe … Na ja, wie dem auch sei, ich fand mein Stickeralbum trotzdem super. Ich habe das sogar noch in einer Kiste auf dem Schrank.«
    »Ich hab die Weihnachtsmänner bestimmt auch noch irgendwo«, sagt das Känguru und beginnt tief unten in seinem Beutel zu graben. Allerhand Dinge, die im Weg sind, wirft es achtlos zur Seite. Zwei rote Boxhandschuhe, eine Packung Schnapspralinen, Band 17 bis 23 der Marx-Engels-Werke, diverse Aschenbecher, ein sich selbst aufblasendes Riesenkänguru, einen Tacker, einen Flachbildschirm, einen Bolzenschneider und ein Fabergé-Ei, das ich gerade noch auffangen kann. Es zieht eine riesige Mindmap aus seinem Beutel, auf der »Masterplan« steht, und danach einen kleinen Zettel, auf den es die Weltformel gekritzelt hat: »0=0«. Schließlich zieht es ein Elementarlehrbuch Deutsch für Ausländer hervor.
    »Hier! Kuck!«, sagt es. »Damit hab ich Deutsch gelernt.«
    »Echt?«, frage ich.
    »Ja, kurz nach dem Vietnamkrieg, als wir aus Ho-Chi-Minh-City nach Ostberlin gekommen sind.«
    »Davon hast du mir noch nie erzählt.«
    »Na ja«, sagt das Känguru. »Da gibt’s nicht viel zu erzählen. Mutti und ich kamen ja als Vertragsarbeiter in die DDR. Beim Vietcong gab es nichts mehr für uns zu tun, und in Ostdeutschland herrschte Arbeitskräftemangel, deshalb hat die DDR Arbeiter aus sozialistischen Bruderstaaten eingeladen.«
    Das Känguru reicht mir das Lehrbuch. Es heißt: Guten Tag, Kollege!
    Ich schlage es in der Mitte auf und lese laut vor:
    »Lesen Sie!
    Die Fahrt in
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