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Lauf, wenn du kannst

Lauf, wenn du kannst

Titel: Lauf, wenn du kannst
Autoren: Lisa Gardner
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    In der Nacht, als der Anruf kam, hatte er schon eine Fünfzehn-Stunden-Schicht hinter sich. Auf der 93 waren zu viele ungeduldige Fahrer unterwegs, was dazu führte, dass es immer wieder knallte. Die Bäume ragten kahl in den Himmel, die Tage waren kurz, und Weihnachten rückte bedrohlich näher. Außerdem war es lausig kalt. Die unbeschwerte Geselligkeit sommerlicher Grillabende gehörte nun endgültig der Vergangenheit an, und man wanderte wieder allein durch die stillen Straßen der Stadt, wo mürbes Laub raschelnd über die vereisten Gehwege wehte.
    Anders als seine Kollegen, die meist über die kurzen, grauen Tage im Februar jammerten, verabscheute Bobby Dodge besonders den November, und die letzten Stunden hatten nicht eben dazu beigetragen, ihn vom Gegenteil zu überzeugen.
    Seine Schicht hatte mit einem unbedeutenden Blechschaden angefangen, gefolgt von zwei weiteren Auffahrunfällen, verursacht von Gaffern, die in nördlicher Richtung unterwegs waren. Vier Stunden Formularkram später hatte Bobby eigentlich geglaubt, das Schlimmste ausgestanden zu haben. Doch dann, am frühen Nachmittag, einer Zeit, zu der selbst auf der für ihre Staus berüchtigten 93 normalerweise kaum Verkehr herrschte, waren fünf Wagen ineinander gerast, weil ein Taxifahrer versucht hatte, mit überhöhter Geschwindigkeit gleich vier Spuren auf einmal zu überqueren, was ein gestresster Werbemanager in einem Hummer nicht auf sich sitzen lassen wollte. Der Hummer hatte den Aufprall weggesteckt wie ein echter Boxweltmeister, während das angerostete Taxi k.o. ging und gleich drei weitere Autos mit ins Verderben riss. Bobby verständigte vier Abschleppunternehmen, fertigte eine Unfallskizze an und nahm schließlich den Werbemanager fest, denn inzwischen hatte sich herausgestellt, dass sich der Mann das mittägliche Geschäftsessen mit ein paar Martinis versüßt hatte.
    Eine Festnahme wegen Alkohols am Steuer bedeutete weitere Formulare und außerdem eine Fahrt zum Revier in South Boston (inzwischen mitten im Berufsverkehr, wenn sich niemand mehr, nicht einmal unter dem Auge des Gesetzes, an die Vorfahrtsregeln hielt) und nicht zuletzt eine heftige Auseinandersetzung mit dem Werbemanager selbst, der sich der Gefangennahme widersetzte.
    Der Werbemanager war etwa fünfundzwanzig Kilo schwerer als Bobby, verwechselte wie viele Männer, die es mit einem kleineren Gegner zu tun haben, Körpergröße mit kräftemäßiger Überlegenheit und missachtete zudem sämtliche Warnsignale. Nachdem er sich mit der rechten Hand am Türstock festgeklammert hatte, ließ er sich mit seinem ganzen Gewicht nach hinten fallen, offenbar in der Absicht, seinen zarter gebauten Begleiter einfach umzurempeln. Allerdings hatte er seine weitere Vorgehensweise nicht bedacht, da es schlichtweg unmöglich war, so mir nichts, dir nichts aus einem Revier zu fliehen, in dem es von bewaffneten Polizisten nur so wimmelte. Jedenfalls duckte sich Bobby nach links, streckte den Fuß aus und sah seelenruhig zu, wie der übergewichtige Manager unsanft auf dem Boden landete. Das beeindruckende Gepolter ließ einige Kollegen innehalten, um die kostenlose Darbietung mit einem Applaus zu würdigen.
    »Wir sehen uns vor dem Richter, du Arschloch!«, brüllte der betrunkene Manager. »Ich verklage dich, deinen Vorgesetzten und den ganzen beschissenen Staat Massachusetts. Mir gehört dieser Laden. Hast du kapiert? Ich hole mir deine gottverdammte Dienstmarke.«
    Bobby zerrte den dicken Mann auf die Füße. Der Werbemanager stieß einen weiteren Schwall von Verwünschungen aus, vermutlich deshalb, weil Bobby ihn in den Daumen kniff. Dann schubste Bobby den Mann in die Arrestzelle und knallte die Tür zu.
    »Wenn Sie kotzen müssen, benutzen Sie bitte die Toilette«, teilte Bobby ihm mit, weil der Mann inzwischen eine leicht grünliche Gesichtsfarbe angenommen hatte. Der Werbemanager zeigte ihm den Stinkefinger. Im nächsten Moment krümmte er sich zusammen und erbrach sich auf den Fußboden.
    Bobby schüttelte den Kopf. »Reicher Schnösel«, murmelte er.
    Manche Tage konnte man eben vergessen. Vor allem im November.
    Inzwischen war es kurz nach zehn Uhr abends. Der Werbemanager war von seinem überteuerten Anwalt mit einer Kaution freigekauft worden, und die Zelle war mittlerweile gereinigt. Bobbys Schicht, die um sieben Uhr morgens begonnen hatte, war endlich vorbei. Eigentlich hätte er jetzt nach Hause fahren sollen. Susan anrufen. Dafür sorgen, dass er eine Mütze voll Schlaf
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